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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urlich Plenzdorf
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schwer schlau werden aus ihm.«
    »Und er? Edgar?«
    »Edgar machte, was er immer in solchen Fällen machte, nur an dem Tag zum erstenmal für mich: Er redete Blech. Ich kann es nicht anders sagen. Man konnte sich das auch nicht merken. Ein dermaßen krauses Zeug. Vielleicht nicht sinnlos, aber völlig verschroben. Von sich hatte er das nicht. Wahrscheinlich aus der Bibel, denk ich manchmal. Damit wollte er einen einfach verblüffen, das war alles.«

    Mit Charlie hätte ich mir diesen Jux vielleicht nicht leisten sollen. Trotzdem, ihr Gesicht war nicht mit Dollars zu bezahlen.
    Als nächstes fragte sie mich: Wie alt bist du eigentlich? Du! Sie sagte: du. Das sagte sie seit dem Tag immer, wenn sie mir zu verstehen geben wollte, daß sie eigentlich meine Mutter sein konnte. Dabei war sie höchstens zwei Jahre älter als ich. Ich sagte: Dreitausendsiebenhundertundsiebenundsechzig Jahre, oder waren es — sechsundsiebzig? Ich verwechsle das dieses Jahr immer. Danach ging sie. Ich gebe zu, daß mich diese Frage immer fast gar nicht anstank. Auch bei einer Frau, die mir was sein konnte. Das zwang einen immer zum Lügen. Ich meine, kein Mensch kann was für sein Alter. Und wenn einer geistig weit über die Siebzehn raus ist, ist er doch schön blöd, die Wahrheit zu sagen, wenn er ernst genommen sein will. Wenn du in einen Film willst, der erst ab achtzehn ist, stellst du dich ja auch nicht hin und brüllst: Ich bin erst siebzehn. Übrigens ging ich wohl doch ziemlich oft ins Kino. Das war immer noch besser, als zu Hause mit Mutter Wibeau vor der Röhre hocken.
    Das erste, was ich machte, als Charlie weg war: ich lud den Recorder neu und teilte Willi mit: Nein, ich betrüge mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ende.
    Leute! War das ein Krampf! Vor allem das mit der Begier. Das heißt, so ganz blöd war es auch wieder nicht. Ich kam einfach nicht mit dieser Sprache zu Rande. Heilig! Ich war gespannt, was Willi sich dazu einfallen ließ.
    Danach war mir sehr nach Musik. Ich schob die Kassette mit den ganzen Aufnahmen von diesem M.S.-Septett rein und fing an mich zu bewegen. Zuerst langsam. Ich wußte, daß ich Zeit hatte. Das Band lief gute fünfzig Minuten. Ich hatte fast alles von diesen Jungs. Sie spielten, daß man kaputtging. Ich konnte nicht besonders gut tanzen, jedenfalls nicht öffentlich. Ich meine: Dreimal so gut wie jeder andere konnte ich es immer noch. Aber richtig warm wurde ich nur in meinen vier Wänden. Draußen störten mich die ewigen Tanzpausen. Man kam langsam in Fahrt — Pause. Das machte mich immer fast gar nicht krank. Diese Musik muß pausenlos gespielt werden, meinethalben mit zwei Bands. Sonst kann sich kein Mensch in seine richtige Form steigern. Die Neger wissen das. Oder Afrikaner. Man soll wohl Afrikaner sagen. Bloß, wo gab es zwei solche Bands wie das M.S.-Septett? Man mußte froh sein, daß es die Jungs überhaupt gab. Vor allem den Orgeler. Meiner Meinung nach konnten sie den nur von einem Priesterseminar haben, ein Ketzer oder so. Ich hatte mir fast den halben Arsch aufgerissen, um alle Aufnahmen von den Jungs aufzutreiben. Die gingen ungeheuer los. Eine Viertelstunde und ich war echt high, das zweitemal in kurzer Zeit. Sonst hatte ich das höchstens einmal im Jahr geschafft. Ich wußte langsam, daß es genau richtig war für mich, nach Berlin zu gehen. Schon wegen Charlie. Leute, war ich high! Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich euch alle eingeladen. Ich hatte für mindestens dreihundertsechzig Minuten Musik in den Kassetten. Ich glaube, ich war echt begabt zum Tanzen. Edgar Wibeau, der große Rhythmiker, gleich groß in Beat und Soul. Ich konnte auch steppen. Ich hatte mir an ein Paar Turnschuhe Steppeisen gebaut. Es war erstaunlich, im Ernst. Und wenn meine Kassetten nicht gereicht hätten, wären wir in den »Eisenbahner« gegangen oder noch besser in die »Große Melodie«, wo die M.S.-Jungs spielten oder SOK oder Petrowski, Old Lenz, je nachdem, wer gerade dran war. Montag war immer fester Tag. Oder denkt vielleicht einer, ich wußte nicht, wo man in Berlin hingehen mußte wegen echter Musik? Nach einer Woche wußte ich das. Ich glaube nicht, daß es viele Sachen in Berlin gegeben hat, die ich versäumt habe. Ich war wie in einem Strom von Musik. Vielleicht versteht mich einer. Ich war doch wie ausgehungert, Leute!

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