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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urlich Plenzdorf
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Schätzungsweise zweihundert Kilometer um Mittenberg rum gab es doch keine anständige Truppe, die Ahnung hatte von Musik. Old Lenz und Uschi Brüning! Wenn die Frau anfing, ging ich immer kaputt. Ich glaube, sie ist nicht schlechter als Ella Fitzgerald oder eine. Sie hätte alles von mir haben können, wenn sie da vorn stand mit ihrer großen Brille und sich langsam in die Truppe einsang. Wie sie sich mit dem Chef verständigte ohne einen Blick, das konnte nur Seelenwanderung sein. Und wie sie sich mit einem Blick bedankte, wenn er sie einsteigen ließ! Ich hätte jedesmal heulen können. Er hielt sie so lange zurück, bis sie es fast nicht mehr aushalten konnte, und dann ließ er sie einsteigen, und sie bedankte sich durch ein Lächeln, und ich wurde fast nicht wieder. Kann auch sein, es war alles ganz anders mit Lenz. Trotzdem, die »Große Melodie«, das war eine Art Paradies für mich, ein Himmel. Ich glaube nicht, daß ich in der Zeit von viel was anderem gelebt habe als von Musik und Milch. Anfangs war mein Problem in der »Großen Melodie« bloß, daß ich keine langen Haare hatte. Ich fiel ungeheuer aus dem Rahmen. Als echter Vorbildknabe durfte ich in Mittenberg natürlich keinen Kanten haben und eine Innenrolle schon gar nicht. Ich weiß nicht, ob sich einer vorstellen kann, was das für ein Leiden war. Ich krümmte mich, wenn ich die anderen mit ihren Loden sah, natürlich nur innerlich. Ansonsten behauptete ich, daß mir lange Haare nichts sein konnten, wenn alle welche hatten, weil da kein Mut zu gehörte. Dabei gab es in einer Tour Heckmeck wegen der Haare. Schon bei der Einstellung. Ich weiß nicht, wer das kennt, Leute. Dieses Gesicht, wenn sie einem erklären, daß in der Werkstatt oder wo keine langen Haare getragen werden dürfen, wegen der Sicherheit. Oder eben Kopfschutz, Haarnetz, wie die Frauen, womit einer dann aussieht wie markiert, wie bestraft. Ich glaube, keiner kann sich vorstellen, was das für eine Genugtuung für einen wie Flemming war. Die meisten nahmen natürlich den Kopfschutz, und wenn es ging, nahmen sie ihn ab. Mit dem Erfolg, daß Flemming sofort angetobt kam. Er hätte nichts gegen lange Haare, aber in der Werkstatt —, leider ... und so weiter. Wenn ich sein Grinsen sah dabei, wurde mir immer rot vor Augen. Ich weiß nicht, wie man so was nennen muß, wenn Leute wegen langer Haare ewig angestänkert werden. Ich möchte wissen, wem man damit irgendwas zuleide tut? Ich fand Flemming dann immer ungeheuer fies. Vor allem, wenn er dann noch sagte: Seht euch den Edgar an. Der sieht immer proper aus. Proper!
    Irgendwer hat mir mal die Geschichte von einem erzählt, auch so einem Musterknaben, Durchschnitt eins und besser, Sohn prachtvoller Eltern, bloß, er fand keine Kumpels. Und in seiner Gegend gab’s da so eine Horde, die kippte Parkbänke um, schmiß Scheiben ein und dergleichen Zeugs. Kein Aas konnte sie erwischen. Der Anführer war ein absolut ausgeschlafener Junge. Aber eines mehr oder weniger schönen Tages klappte es doch. Sie griffen ihn. Der Kerl hatte Haare bis auf die Schultern — typisch! Bloß, es war eine Perücke, und in Wahrheit war er eben jener prachtvolle Musterknabe. An einem Tag hatte es ihm gereicht, und er hatte sich eine Perücke angeschafft.
    Anfangs in Berlin dachte ich oft daran, ebenfalls irgendwo eine Perücke aufzureißen, für die »Große Melodie«. Aber erstens liegen Perücken nicht einfach so auf der Straße rum, und zweitens hatte ich einen geradezu teuflischen Haarwuchs. Ob das einer glaubt oder nicht — meine Haare wurden am Tag schätzungsweise zwei Zentimeter länger. Das war lange Zeit ein echtes Leiden von mir. Ich kam gar nicht wieder weg vom Friseur. Aber auf die Art hatte ich nach zwei Wochen schon einen annehmbaren Pilz.

    »Sie haben ihn demnach noch öfter gesehen?«
    »Das ließ sich nicht vermeiden. Wir waren ja praktisch Nachbarn. Und seit der Sache mit dem Wandbild gingen ihm die Kinder nicht mehr von der Pelle! Was sollte ich dagegen machen? Er konnte mit Kindern umgehen, wie man das bei Männern ganz selten hat, ich meine, bei Jungs. Außerdem! glaube ich, daß Kinder genau wissen, wer was für sie übrig hat oder nicht.«

    Das stimmt. Charlies Gören war nicht mehr zu helfen. So sind sie. Man darf ihnen nicht den kleinen Finger geben. Ich wußte das. Sie denken wahrscheinlich, das macht einem Spaß. Trotzdem machte ich mit, geduldig wie ein Vieh. Erstens war Charlie der Meinung, ich könnte hervorragend mit Kindern

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