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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urlich Plenzdorf
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nahm sie einen für voll oder machte sie sich über einen lustig? Das konnte einen ziemlich krank machen.
    Ich sagte wohl schon, daß ich praktisch zum Inventar von diesem Kindergarten gehörte. Eine Art Außen-Hausmeister oder was. Fehlte bloß noch, daß ich den Zaun anstrich. Dieses Spielzeugreparieren und Karussellschieben gehörte sowieso schon zum Service. Und Luftballonaufblasen. An dem Tag, wahrscheinlich Kinderfest, hatte ich schon ungefähr zwei hoch sechs Ballons aufgeblasen, und beim zwei hoch siebenten wurde mir schwarz vor Augen, und ich kippte um. Ich kippte glatt um. Ich konnte vier Minuten tauchen, drei Tage hungern oder einen halben Tag keine Musik hören, ich meine: echte Musik. Aber davon kippte ich um. Als ich wieder auftauchte, lag ich in Charlies Schoß. Ich begriff das sofort. Sie hatte mein Hemd aufgemacht und massierte meine Brust. Ich drückte meine Birne fest an ihren Bauch und hielt still. Leider bin ich blödsinnig kitzlig. Ich mußte mich also hinsetzen. Die Gören standen um uns rum. Charlie war blaß. Fast sofort tobte sie los: Wenn ich Hunger hätte, würde ich was essen, ja?!
    Ich meinte: Kommt bloß vom Aufblasen. Charlie: Wenn ich nichts zu essen hätte, würde ich mir was kaufen.
    Ich grinste. Ich wußte genau, warum sie so tobte. Weil sie ungeheuer froh war, daß ich noch lebte. Jeder einigermaßen intelligente Mensch hätte das gemerkt. Sie fraß mich förmlich auf mit ihren Scheinwerfern, Leute. Ich wurde beinah nicht wieder. Bloß die Gören hätte ich auf den Mond schießen können.
    Charlie: Wenn ich kein Geld hätte, würde ich arbeiten gehn.
    Ich sagte: Wer nicht ißt, soll auch nicht arbeiten. Ich hielt solche Verdrehungen für ziemlich witzig. Anschließend brachte ich mich hoch, schoß in meine Kolchose, mehr als zwei Schritte waren das nicht, und ruppte den ersten Salatkopf ab, den ich in die Klauen kriegte. Ich sagte wohl noch nicht, daß ich an einem Tag spaßeshalber alle Samentüten, die da noch in Willis Laube rumlagen, im Garten verstreut hatte. Als erstes war Salat gekommen. Salat und Radieschen. Ich fing an, mir den Salat zwischen die Zähne zu schieben. Der Sand knirschte, aber ich wollte nur folgendes loswerden:
    Wie wohl ist mir’s, daß mein Herz die simple harmlose Wonne des Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das er selbst gezogen.
    Natürlich hatte ich das von diesem Werther! Ich glaube, ich hatte an dem Tag so viel Charme wie nie.
    Charlie sagte bloß: Du Spinner!
    Bis dahin hatte sie das noch nie gesagt. Sie war immer auf die Palme gegangen, wenn ich mit diesem Werther kam. Ich wollte sofort meine Chance nutzen und meinen Kopf wieder bei ihr unterbringen, und es hätte garantiert auch geklappt, wenn mir in dem Moment nicht dieses blöde Werther-Heft aus dem Hemd gerutscht war. Ich hatte mir angewöhnt, es immer im Hemd zu haben, ich wußte eigentlich selbst nicht, warum.
    Charlie hatte es sofort in der Hand. Sie blätterte drin, ohne zu lesen. Ich sah ziemlich alt aus. Ich wäre mir reichlich blöd vorgekommen, wenn sie alles mitgekriegt hätte. Sie fragte, was das ist. Ich nuschelte: Klopapier. Eine Sekunde später hatte ich das Ding wieder. Ich steckte es weg. Schätzungsweise zitterte mir leicht die Hand dabei. Seit dem Tag ließ ich es in der Laube, Leute. Danach wollte ich wieder weitermachen mit Charmantsein und dem, bloß da kam die Kindergartenchefin in den Auslauf getobt. Ich dachte erst, sie hat vielleicht was gegen meine geschätzte Anwesenheit. Aber sie sah mich gar nicht. Sie sah nur Charlie an, irgendwie komisch.
    Sie sagte: Mach Schluß für heute. Ich mach weiter für dich.
    Charlie verstand überhaupt nichts.
    Die Chefin: Dieter ist da.
    Charlie wurde käseweiß, dann knallrot. Dann sah sie mich wie einen Schwerverbrecher an oder was, und dann fegte sie ab.
    Ich sah nicht mehr durch.
    Die Chefin erklärte mir: Dieter ist ihr Verlobter.
    Er war an dem Tag von der Armee zurück, in Ehren entlassen und das. Fragte ich mich, wieso Charlie das nicht wußte. Das kriegt man doch geschrieben. Dann dachte ich an den Schwerverbrecherblick. Ich sollte schuld sein, ich, Edgar Wibeau, der Arbeitsscheue, der Halbmaler, der Spinner! An mir sollte es liegen, daß sie ihren Dieter nicht am Bahnhof mit Blumen und alldem empfangen hatte. Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Ich glaube, ich sagte schon, daß ich ziemlich viel Charme hatte. Daß ich ankam bei Frauen oder bei weiblichen Wesen. Ich meine jetzt: geistig, oder wie

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