Die neuen Leiden des jungen W
womöglich auf die Schliche kamen mit der Spritze. Ich Idiot, ich dachte doch immer, ich würde mit der Spritze groß rauskommen. Ich versagte mir fast alles. Ich zückte zum Beispiel kein einziges Mal meine Werther-Pistole. Ich malte brav meine Fußböden mit der Rolle, und sonnabends ging ich sogar manchmal mit kegeln. Ich saß da wie auf Kohlen oder was, während sie kegelten und dachten: Den Wibeau, den haben wir großartig eingereiht. Ich kam mir fast vor wie in Mittenberg. Und zu Hause wartete meine Spritze.
In der Zeit riß ich auch dieses Hugenottenmuseum auf, durch Zufall. Ich hatte es eigentlich längst aufgegeben, danach zu suchen. Anfangs hatte ich dutzendweise Leute gefragt, eine Art Volksbefragung. Können Sie mir sagen, wo ich das Hugenottenmuseum finde? Erfolg gleich Null. Kein Aas in ganz Berlin wußte was davon. Die meisten hielten mich wohl für blöd oder für einen Touristen. Und plötzlich stand ich davor. Es war in einer kaputten Kirche. Der Bau hatte midi interessiert, weil er die erste Kriegsruine war, die ich gesehen hatte. In Mittenberg war doch kein einziger Schuß gefallen! Das hatte doch General Brussilow oder wer beinah vergessen einzunehmen. Und an der einzigen intakten Pforte von dem ganzen Bau stand: Hugenottenmuseum. Und darunter: Wegen Umbau geschlossen. Normalerweise hätte mich dieses Schild nicht gestört. Schließlich war ich Hugenotte, und man konnte mich nicht aussperren. Schätzungsweise wäre mir doch der Museumschef um den Hals gefallen. Ein echter, lebender Hugenottensproß ! Soviel ich wußte, waren wir doch am Aussterben. Aber aus irgendeinem Grund machte ich vor diesem Schild kehrt. Ich analysierte mich kurz und stellte fest, daß es mich einfach nicht interessierte, ob ich adlig war oder nicht, oder was die anderen Hugenotten machten; wahrscheinlich nicht mal, ob ich Hugenotte oder Mormone oder sonstwas war. Aus irgendeinem Grund interessierte mich das nicht mehr.
Dafür kam ich um die Zeit auf eine andere blöde Idee, nämlich an Charlie zu schreiben.
Ich hatte sie seit dem Tag damals praktisch nicht wiedergesehen. Mir war klar, daß sie sich längst wieder mit ihrem Dieter vertragen hatte und daß ich nach allem keine Chancen bei ihr haben konnte. Trotzdem hatte ich sie immerzu im Kopf. Ich weiß nicht, ob das einer begreift, Leute. Mein erster Gedanke war sofort Old Werther. Der hatte doch in einer Tour Briefe an seine Charlotte geschrieben. Ich brauchte denn auch nicht lange zu suchen, bis ich einen passenden fand:
Wenn Sie mich sähen, meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetrocknet meine Sinne werden; ...nicht eine selige Stunde! nichts! nichts!
Das pinselte ich auf die Rückseite von einer Speisekarte in diesem Kegelschuppen. Ich schickte es aber nie ab. Mir wurde klar, daß ich mit Werther schon gar keine Chancen mehr bei ihr hatte. Damit konnte ich ihr nicht mehr kommen. Bloß, mir fiel nichts anderes ein. Einfach hingehen konnte ich doch nicht. Und dann steckte an einem Abend in meinem Briefkasten ein Kuvert. Ich sah das schon von weitem. Post kriegte ich doch nur postlagernd. Es war auch keine Briefmarke drauf. Und drin war eine Karte von Charlie: Lebst du noch? Besuch uns doch mal. Wir haben längst geheiratet.
Charlie mußte also selber dagewesen sein. Ich wurde fast nicht wieder, Leute. Die Knie wackelten mir. Im Ernst. Ich kriegte eine Art Schüttelfrost. Ich ließ alles stehen und liegen und tobte sofort los. Acht Minuten später stand ich vor Dieters Tür. Ich nahm einfach an, sie würden jetzt zusammen bei ihm wohnen. Und das war auch der Fall. Charlie machte auf. Sie starrte mich zuerst an. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihr nicht ganz recht kam um die Zeit. Ich meine, ich kam ihr schon recht, aber doch nicht ganz recht. Vielleicht dachte sie auch bloß, ich würde nicht gleich am selben Tag kommen, an dem sie den Brief auf meine Kolchose gebracht hatte. Jedenfalls holte sie mich ins Zimmer. Sie hatten nur das eine Zimmer. Im Zimmer saß Dieter. Er saß da hinter seinem Schreibtisch, genauso, wie er da vor ein paar Wochen gesessen hatte. Das heißt, es saß nicht dahinter, sondern eigentlich davor. Er hatte den Schreibtisch am Fenster stehen und saß davor, mit dem Rücken zum Zimmer. Ich verstand das völlig. Wenn einer nur ein Zimmer hat, in dem er auch noch arbeiten muß, dann muß er sich irgendwie abschirmen. Und Dieter machte das mit dem Rücken. Sein Rücken war praktisch eine Wand.
Charlotte sagte: Dreh dich mal
Weitere Kostenlose Bücher