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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urlich Plenzdorf
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Addi!

    »Entschuldigen Sie. Ich hab es nicht von Edgar — von Zaremba.«
    »Wann soll denn das gewesen sein?«
    »Das muß gewesen sein, nachdem wir ihn gefeuert hatten, Ende Oktober.«
    »Bei mir war niemand.«

    Es stimmt aber leider. Ich weiß auch nicht, warum ich da hinging, aber es ist Tatsache. Er wohnte in einem dieser prachtvollen Kachelwürmer, von denen Berlin langsam voll ist. Ich wußte seine Adresse. Aber ich wußte nicht, daß es einer dieser prachtvollen Kachelwürmer war. Er hatte da ein Appartement. Und nach Norden raus stimmt auch. Ich weiß nicht, ob einer glaubt, daß ich so blöd war, mich gleich vorzustellen. Guten Tag, Papa, ich bin Edgar, in dem Stil. So nicht. Ich hatte meine Bauklamotten an. Ich sagte einfach: die Heizungsmonteure, als er aufmachte. Er war nicht besonders erbaut davon, aber er nahm es mir sofort ab. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn er es mir nicht abgenommen hätte. Irgendeinen Plan hatte ich nicht, aber ich war mir ziemlich sicher, daß es klappen würde. Eine blaue Hose, und du bist der Heizungsmonteur. Eine olle Jacke, und du bist der neue Hausmeister. Eine Ledertasche, und du bist der Mann vom Fernmeldeamt und so weiter. Sie nehmen dir alles ab, und man kann es ihnen nicht mal übelnehmen. Man muß es bloß wissen. Außerdem hatte ich noch einen Hammer bei mir. Mit dem pingelte ich eine Weile an dem Heizungskörper im Bad rum. Er stand in der Tür und sah zu. Ich sagte nichts. Ich brauchte einfach Zeit, um mich an ihn zu gewöhnen. Ich weiß nicht, ob das einer begreift, Leute. Wissen, man hat einen Vater, und ihn dann sehen, das ist überhaupt nicht dasselbe. Er sah aus wie dreißig oder so. Das warf mich fast völlig um. Ich hatte doch keine Ahnung davon. Ich dachte doch immer, daß er mindestens fünfzig war! Ich weiß auch nicht, warum. Er stand da in der Tür in Bademantel und in nagelneuen Jeans. Ich sah das sofort. Um die Zeit gab es in Berlin nämlich plötzlich echte Jeans. Keine Ahnung, warum. Aber es gab sie. Es war mal wieder kurz vor irgendwas. Es sprach sich natürlich sofort rum, jedenfalls in gewissen Kreisen. Sie verkauften sie in einem Hinterhaus, weil sie wußten, daß kein Kaufhaus Berlins die Massen fassen konnte, die wegen der Jeans kamen. Und so kam es denn auch. Ich nehme an, keiner glaubt, daß ich nicht dabeigewesen war. Und wie ich dabei war! So früh war ich lange nicht mehr aufgestanden, um rechtzeitig dazusein. Ich hätte mir doch sonstwas abgebissen, wenn ich keine Jeans abgekriegt hätte. Wir standen da zu dreitausend Mann in dem Treppenhaus und warteten auf den Einlaß. Kein Mensch kann sich vorstellen, wie dicht wir da standen. An dem Tag fiel der erste Schnee, aber gefroren hat von uns garantiert keiner. Ein paar hatten Musik mit. Es war eine Stimmung wie Weihnachten, wenn gleich die Tür aufgeht und die Bescherung anfängt - vorausgesetzt, man glaubt noch an den Weihnachtsmann. Wir waren alle echt high. Ich war kurz davor, meinen Blue-jeans-Song loszulassen, als sie die Tür aufmachten und das Theater anfing. Hinter der Tür standen vier ausgewachsene Verkäufer. Die wurden zur Seite geschoben wie nichts, und wir stürzten uns auf die Jeans. Leider wurde die Sache ein glatter Verlust. Es war nicht die echte Sorte, die sie hatten. Es waren zwar auch authentische Jeans, aber es war nicht die echte Sorte. Trotzdem war es ein gelungenes Happening an dem Tag. Am besten waren vielleicht diese zwei Provinzmuttis, die mit in dem Treppenhaus waren. Sie wollten wohl ihren Söhnchen in Kleindingsda echte Jeans mitbringen. Aber als die Stimmung langsam auf den Höhepunkt kam, kriegten sie plötzlich Schiß. Sie wollten raus, die Guten. Dabei hatten sie nicht die Bohne von Chance dafür, selbst wenn ich oder einer ihnen hätte helfen wollen. Sie mußten mitmachen, ob sie wollten oder nicht. Ich hoffe, sie haben es halbwegs überstanden.
    Jedenfalls muß an diesem Tag auch dieser Vater irgendwo in der Masse gewesen sein. Ich konnte mir das gut vorstellen, wie er da vor mir in der Tür stand und mich überwachte. Warum er da stand, war mir übrigens fast sofort klar. Über einer Leine in diesem Bad hing ein Paar Damenstrümpfe. Garantiert hatte er eine im Zimmer, und gerade da wollte ich mich umsehen, bevor ich mich zu erkennen gab. Ich sagte also: Hier ist alles in Ordnung. Wolln mal sehen, was im Zimmer ist.
    Und er: Da ist alles normal.
    Ich: Schön. Aber dies Jahr kommt keiner mehr von uns.
    Da gab er nach. Wir gingen in das

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