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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der Verpackung quoll. Darauf folgte ein wackeliges «A», das ein wenig einer Stehleiter mit Tritten auf beiden Seiten glich. Und schließlich kam ein zweites «B», gefährlich schräg auf einen einzigen Punkt gestellt, wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide.
    Quinn schrieb die Buchstaben der Reihe nach auf: OWEROFBAB. Nachdem er eine Viertelstunde mit ihnen herumgespielt, sie immer wieder auseinandergerissen und in anderer Reihenfolge zusammengestellt hatte, kehrte er zu der ursprünglichen Anordnung zurück und schrieb sie so: OWER OF BAB. Die Lösung erschien ihm so grotesk, dass ihn beinahe die Nerven im Stich ließen. Auch wenn man berücksichtigte, dass er die ersten vier Tage versäumt hatte und dass Stillman noch nicht fertig war, schien die Antwort unausweichlich «Der Turm zu Babel» zu lauten: THE TOWER OF BABEL.
    Quinns Gedanken schweiften einen Augenblick ab zu den letzten Seiten von A. Gordon Pym und der Entdeckung der seltsamen Hieroglyphen auf der inneren Wand der Schlucht – Buchstaben, die in die Erde selbst eingeschrieben waren, als versuchten sie etwas zu sagen, was nicht mehr verstanden werden konnte. Aber wenn man länger darüber nachdachte, schien dieser Vergleich nicht zuzutreffen. Denn Stillman hatte seine Botschaft nirgends hinterlassen. Zwar hatte er die Buchstaben durch die Bewegung seiner Schritte geformt, aber sie waren nicht niedergeschrieben worden. Es war so, als zeichnete man mit dem Finger ein Bild in die Luft. Das Bild vergeht, während man es schafft. Es gibt kein Ergebnis, keine Spur, die zeigt, was man gemacht hat.
    Und doch existieren Bilder – nicht auf den Straßen, wo sie gezeichnet worden waren, wohl aber in Quinns rotem Notizbuch. Er fragte sich, ob sich Stillman jeden Abend in seinem Zimmer hingesetzt und seine Route für den nächsten Tag entworfen oder ob er beim Gehen improvisiert hatte. Unmöglich, es zu wissen. Er fragte sich auch, welchem Zweck dieses Schreiben in Stillmans Vorstellung diente. War es nur eine Art von Notiz, die er für sich selbst machte, oder war es als Botschaft für andere gedacht? Zumindest, folgerte Quinn, bedeutete es, dass Stillman Henry Dark nicht vergessen hatte.
    Quinn wollte nicht die Nerven verlieren. In dem Bemühen, seine Gefühle zu bezähmen, versuchte er, sich alles in einem möglichst schlechten Licht vorzustellen. Wenn er das Schlimmste voraussah, würde es vielleicht nicht so schlimm kommen, wie er dachte. Er argumentierte folgendermaßen. Erstens: Stillman führte tatsächlich etwas gegen Peter im Schilde. Antwort: Das war in jedem Fall die Prämisse gewesen. Zweitens: Stillman hatte gewusst, dass man ihn verfolgen werde, er hatte gewusst, dass man seine Schritte aufzeichnen und schließlich seine Botschaft entziffern werde. Antwort: Das änderte nichts an der wesentlichen Tatsache, dass Peter beschützt werden musste. Drittens: Stillman war bei weitem gefährlicher, als man sich ursprünglich vorgestellt hatte. Antwort: Das bedeutete nicht, dass er ungeschoren davonkommen konnte.
    Das half ein wenig. Aber die Buchstaben entsetzten Quinn noch immer. Das Ganze war so verschlagen, so teuflisch in seinen Umständlichkeiten, dass er es nicht akzeptieren mochte. Dann kamen wie auf Befehl die Zweifel und füllten seinen Kopf mit spöttischen, eintönigen Stimmen. Er hatte sich das Ganze nur eingebildet. Die Buchstaben waren gar keine Buchstaben. Er hatte sie nur gesehen, weil er sie sehen wollte. Und selbst wenn die Zeichnungen Buchstaben darstellten, so war das reiner Zufall. Stillman hatte nichts damit zu tun. Alles war nichts als Zufall, ein Streich, den er sich selber gespielt hatte.
    Er beschloss, zu Bett zu gehen, schlief tief und fest, wachte auf, schrieb eine halbe Stunde in seinem roten Notizbuch, legte sich wieder ins Bett. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass er wahrscheinlich noch zwei Tage Zeit hatte, denn Stillman hatte seine Botschaft noch nicht beendet. Die letzten beiden Buchstaben fehlten noch – das «E» und das «L». Quinns Gedanken irrten ab. Er geriet in ein Niemandsland von Fragmenten, an einen Ort von wortlosen Dingen und dinglosen Worten. Dann, als er sich ein letztes Mal aus seiner Trägheit aufraffte, sagte er sich, dass EL das alte hebräische Wort für Gott war.
    In seinem Traum, den er später vergaß, befand er sich auf der städtischen Müllhalde seiner Kindheit und siebte einen Berg von Abfällen durch.

Neuntes Kapitel
    D ie erste Begegnung mit Stillman fand im Riverside Park

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