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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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etwas zutage kommen würde. Sie hatte von Fällen von Amnesie gelesen, und eine Zeitlang klammerte sie sich verzweifelt an diese Möglichkeit: an den Gedanken, dass Fanshawe irgendwo umherlief und nicht wusste, wer er war, seines Lebens beraubt, aber nichtsdestoweniger lebendig, vielleicht kurz davor, zu sich selbst zurückzukehren. Noch mehr Wochen vergingen, und dann nahte das Ende ihrer Schwangerschaft. Sie erwartete das Baby in weniger als einem Monat – was bedeutete, dass es jederzeit kommen konnte –, und nach und nach nahm das ungeborene Kind alle ihre Gedanken in Anspruch, so als wäre kein Platz mehr in ihr für Fanshawe. Mit diesen Worten beschrieb sie ihr Gefühl – kein Platz mehr in ihr –, und dann sagte sie, das bedeute wahrscheinlich, dass sie trotz allem wütend auf Fanshawe sei, wütend, weil er sie verlassen habe, auch wenn es nicht seine Schuld sei. Dies war, fand ich, eine Feststellung von brutaler Ehrlichkeit. Ich hatte noch niemanden so über persönliche Gefühle sprechen hören – so schonungslos, so ohne Rücksicht auf herkömmliche Pietät –, und während ich dies nun schreibe, wird mir bewusst, dass ich schon an diesem ersten Tag durch ein Loch in der Erde rutschte, dass ich landete, wo ich nie zuvor gewesen war.
    Eines Morgens erwachte Sophie nach einer schweren Nacht und begriff, dass Fanshawe nicht zurückkommen würde. Es war eine plötzliche, absolute Wahrheit, die nie wieder in Frage gestellt werden sollte. Sie weinte damals, und sie weinte eine ganze Woche und trauerte um Fanshawe wie um einen Toten. Als die Tränen versiegten, stellte sie jedoch fest, dass sie nichts bedauerte. Fanshawe war ihr für einige Jahre gegeben worden, entschied sie, und das war alles. Nun musste sie an das Kind denken, und nichts anderes war wirklich von Bedeutung. Sie wusste, dass das ziemlich pathetisch klang – aber es war eine Tatsache, dass sie mit diesem Gefühl lebte, und es machte ihr auch weiterhin das Leben möglich.
    Ich stellte ihr eine Reihe von Fragen, und sie beantwortete jede ruhig und überlegt, so als gäbe sie sich Mühe, die Antworten nicht durch ihre eigenen Gefühle zu beeinflussen. Wie sie gelebt hatten, zum Beispiel, was für einer Arbeit Fanshawe nachgegangen war und was mit ihm in den Jahren geschehen war, seitdem ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Das Baby begann auf dem Sofa zu zappeln, und ohne das Gespräch zu unterbrechen, öffnete Sophie ihre Bluse und stillte es, zuerst an der einen Brust und dann an der anderen.
    Sie wusste nichts Näheres über die Zeit vor ihrer ersten Begegnung mit Fanshawe. Sie wusste, dass er das College nach zwei Jahren aufgegeben hatte, dass es ihm gelungen war, vom Militärdienst freigestellt zu werden, und dass er eine Zeitlang auf irgendeinem Schiff gearbeitet hatte. Auf einem Öltanker, meinte sie, oder vielleicht auf einem Frachter. Danach hatte er mehrere Jahre in Frankreich gelebt – zuerst in Paris und dann als Hauswart eines Anwesens im Süden. Aber all das war für sie unklar, denn Fanshawe sprach nie viel über die Vergangenheit. Zu der Zeit, als sie sich kennenlernten, war er erst seit acht oder zehn Monaten wieder in Amerika. Sie rannten buchstäblich ineinander – an einem nassen Samstagnachmittag standen beide vor der Tür einer Buchhandlung in Manhattan, sahen durch die Schaufensterscheibe und warteten darauf, dass es aufhören würde zu regnen. So fing es an, und von diesem Tag an bis zu dem Tag, an dem Fanshawe verschwand, waren sie beinahe die ganze Zeit zusammen gewesen.
    Fanshawe hatte nie eine regelmäßige Arbeit, nichts, was man eine richtige Stellung nennen konnte. Geld bedeutete ihm nicht viel, und er versuchte, so wenig wie möglich daran zu denken. In den Jahren, bevor er Sophie kennenlernte, hatte er alles Mögliche getan – eine Zeitlang war er in der Handelsmarine gewesen, und dann hatte er in einem Lagerhaus gearbeitet, Privatunterricht gegeben, als «Neger» für andere geschrieben, serviert, Wohnungen ausgemalt, für einen Spediteur Möbel transportiert –, aber jede Arbeit war nur vorübergehend gewesen, und sobald er genug verdient hatte, um einige Monate davon leben zu können, hatte er sie aufgegeben. Als er und Sophie zusammenlebten, arbeitete Fanshawe gar nicht. Sie hatte eine Stellung als Musiklehrerin an einer Privatschule, und ihr Gehalt reichte für beide. Sie mussten natürlich sparsam sein, aber es stand immer etwas zu essen auf dem Tisch, und keiner von beiden beklagte sich.
    Ich

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