Die Nibelungen neu erzählt
Zeit für Siegfried und Kriemhild, Abschied zu nehmen. Siegfried wollte ja seine Frau nach Xanten bringen, zu seinem Vater und zu seiner Mutter, weil er sich gewiß war, sie würden an ihn die Macht übergeben. Sie nahmen Abschied und zogen hinauf in die Niederlande.
Fünfter Teil
Siegfrieds Tod
Streit der Königinnen
Brünhild brachte einen Sohn zur Welt, und sie wollte, daß dieser Sohn Siegfried hieß. Warum ausgerechnet Siegfried, darüber darf man spekulieren. Vielleicht hatte sie ihre Ahnungen, was seine Rolle bei ihrer Zähmung gewesen war, vielleicht aber hatte dieser Siegfried doch einen Platz in einer Kammer ihres Herzens. Wir wissen es nicht. Sie wollte ihren Sohn Siegfried nennen.
Auch Kriemhild in den Niederlanden, in Xanten, bekam einen Sohn, und sie wollte, daß er Gunther genannt wird. Sie hatte großes Heimweh nach Worms und nach ihren Brüdern.
Zehn Jahre waren die beiden Paare voneinander getrennt. In diesen zehn Jahren wuchs ein Gedanke in Brünhild heran. Sie überlegte sich: »Dieser Siegfried, er ist doch der Lehnsmann meines Gunther. Erstens einmal: Warum gibt mein Gunther seine Schwester einem Nichtstandesgemäßen? Zweitens: Warum hat in all diesen Jahren der Lehnsmann an Gunther nie Tribut bezahlt?«
Aber sie traute sich nicht, Gunther direkt darauf anzusprechen.
Dann sagte sie eines Tages zu Gunther: »Es wäre doch schön, wenn wir deinen Schwager und deine Schwester, Siegfried und Kriemhild, einmal einladen würden. Ich kann mir vorstellen, daß Kriemhild gerne einmal wieder nach Worms kommen würde.«
Und Gunther war begeistert. Man schickte einen Boten nach Xanten, und der Bote kam zurück und meldete, Kriemhild und Siegfried freuen sich, sie werden bald in Worms eintreffen.
Siegfried war inzwischen ruhiger geworden, gesetzter, er war Vater, er war König, und er durfte nicht mehr so ungestüm reagieren wie früher, er war besonnen geworden, ein Mann der Politik.
Kriemhild und Siegfried kamen also nach Worms, es wurde ein großes Festmahl gegeben für die Gäste, für die Ehrengäste. Siegfried, der Retter von Worms, war da! Kein Bürger hatte das vergessen.
Brünhild nun richtete es so ein, daß sie beim Festmahl neben Kriemhild zu sitzen kam. So saßen die beiden Frauen nebeneinander, Kriemhild und Brünhild, und Brünhild begann das Gespräch und sagte: »Wie geht es dir, Kriemhild?«
Kriemhild sagte: »Ja, mir geht es gut, mir geht es gut. Ich meine, ich habe manchmal ein bißchen Heimweh, aber sonst geht es mir gut.«
»Ach«, sagte Brünhild, »ich habe oft an dich gedacht. Du mußt eine sehr unglückliche Frau sein.«
Kriemhild sagte: »Nein, nein, das ganz und gar nicht! Da hast du mich mißverstanden. Ganz und gar nicht bin ich unglücklich, im Gegenteil. Nein, ich habe manchmal ein bißchen Heimweh, dann weine ich ein wenig, dann tröstet mich Siegfried. Dann ist alles wieder gut.«
»Ach«, sagte Brünhild, »du brauchst doch vor mir kein Theater zu spielen. Ich weiß, daß du unglücklich sein mußt mit diesem Mann.«
Da rückte Kriemhild ein Stückchen zurück und sagte: »Wie meinst du das? Warum sollte ich mit Siegfried unglücklich sein? Jede Frau der Welt beneidet mich um diesen Mann.«
Brünhild aber sagte: »Hör zu, Kriemhild, vielleicht jede Frau seines Standes beneidet dich.«
Da wurde Kriemhild laut: »Was meinst du damit? Was soll das heißen? Was soll das heißen!«
Da sagte Brünhild: »Weißt du das nicht? Siegfried ist der Lehnsmann meines Gemahls. Gunther ist sein Lehnsherr. Du bist von deinem Bruder nicht standesgemäß verheiratet worden.«
Da brauste Kriemhild auf: »Das ist nicht wahr! Nein, Siegfried ist ein König!«
Und Kriemhild sprang auf und lief davon.
Sie läuft zu Siegfried und sagt: »Was soll das heißen? Sie hat mich beleidigt! Vor allen am Tisch hat sie mich beleidigt! Was ist los? Was soll das sein?«
»Beruhige dich«, sagt Siegfried. »Ich habe dir vielleicht nicht alles erzählt.«
Noch vor wenigen Jahren wäre er wahrscheinlich auch aufbrausend geworden und hätte die Brünhild zur Rede gestellt, aber, wie gesagt, Siegfried ist ein Mann der Politik und der Diplomatie geworden »Hör zu!« sagt er zu Kriemhild. »Ich habe deinem Bruder damals in Island gesagt, er soll mich wie einen Lehnsmann behandeln. Das war Taktik. Ich habe das leider nie richtiggestellt vor ihr. Deshalb denkt sie das.«
»Ich will den Gürtel«, sagt Kriemhild.
»Welchen Gürtel?«
»Den du ihr in der Hochzeitsnacht abgenommen hast.
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