Die Nibelungen neu erzählt
immer ihr väterlicher Freund gewesen. Und sie dachte, auch Siegfried vertraue Hagen. Und nun gibt Kriemhild aus Sorge um ihren Mann das innerste Geheimnis des Siegfried preis.
Sie sagt: »Ihr müßt ihn schützen, Hagen, Ihr müßt auf ihn achtgeben. Er ist unverwundbar, ja. Aber es gibt eine Stelle an seinem Körper, dort kann er getroffen werden. Es ist eine Stelle auf seinem Rücken, direkt über dem Herzen. Und ich bitte Euch«, so spricht sie zu ihrem Feind, von dem sie meint, es sei ihr Freund, »gebt auf ihn acht, beschützt meinen Siegfried!«
Und Hagen von Tronje schwört ihr, er werde kein Auge von Siegfried lassen.
Hagen denkt sich einen Plan aus, einen äußerst komplizierten Plan. Er möchte sich mit einem Schlag rehabilitieren. Seine Schande hat damals begonnen, als er im Krieg gegen Lüdegast und Lüdeger den falschen Ratschlag gegeben hatte.
Er setzt das Gerücht in die Welt, König Lüdegast und König Lüdeger hätten sich erneut zusammengeschlossen, um Worms anzugreifen.
Hagen ruft aus: »Seht ihr, ich habe damals gewarnt. Ihr aber habt auf Siegfried gehört. Es ist lange Zeit gutgegangen. Aber nun haben sie sich wieder zusammengetan, und es wird wieder zum Krieg geblasen.«
Siegfried kann es nicht verstehen und sagt: »Wenn es so ist, dann habe ich mich getäuscht.« Er sagt: »Du, Hagen, hast recht gehabt. Wenn es so ist, werde ich an Eurer Seite kämpfen. Ihr, Hagen, sollt das Kommando übernehmen!«
Der Tod des Helden
Und wieder heißt es: Krieg!
Kriemhild bittet noch einmal Hagen: »Paßt auf Siegfried auf!«
Hagen sagt: »Ich habe es geschworen. Ich werde ein Auge auf ihn haben. Aber Ihr müßt mir ganz genau zeigen, wo diese Stelle an seinem Rücken ist, damit ich weiß, auf welche Stelle ich besonders achtgeben muß.«
Kriemhild voll Vertrauen zu Hagen: »Gut, ich werde die Stelle kennzeichnen.«
Auf das Kriegsgewand des Siegfried stickt sie ein kleines, rotes Kreuz, daß es genau die Stelle bezeichnet, wo das Lindenblatt auf seinen Rücken gefallen ist.
»Hier«, sagt sie, »ist er verwundbar. Nur hier. Habt acht auf diese Stelle!«
Und nun beginnt ein wirrer Feldzug, niemand weiß, wo eigentlich der Feind steht. Hagen gibt widersprüchliche Befehle. In einer Nacht wird in diese Richtung gezogen, am Tag macht man Lager, dann wird wieder weitergezogen, diesmal in die entgegengesetzte Richtung.
Dann sind die Vorräte aufgebraucht, und es werden verschiedene Gruppen zusammengestellt, die auf die Jagd gehen sollen.
Eine dieser Gruppen, die kleinste, sie besteht nur aus Hagen, Siegfried und Gunther, schlägt sich durch den Wald, um Wasser zu suchen.
Sie finden die Quelle, und Hagen sagt: »Siegfried soll als erster trinken, er hat uns beim letzten Krieg das Leben gerettet. Und auch später hat er uns oft das Leben gerettet. Ohne ihn sind wir nichts. Siegfried, beuge dich nieder und trinke!«
Siegfried reicht Hagen das Schwert Balmung, damit er sich leichter niederknien kann, um zu trinken. Er gibt seinen Rücken wehrlos preis.
Hagen sieht das rote Kreuz, das Kriemhild auf das Gewand gestickt hat. Er hebt das Schwert Balmung und tötet Siegfried.
Gunther hat dabei zugesehen.
Der Krieg wird abgeblasen. Das Heer kehrt nach Worms zurück.
Hagen sieht gar keine Veranlassung, seine Tat geheimzuhalten, ganz im Gegenteil, er gibt überall bekannt, er habe Siegfried getötet. Er prahlt damit, daß er den Helden überlistet habe, gibt lachend zu, daß Lüdegast und Lüdeger gar nicht angreifen wollten, daß alles nur ein Trick gewesen sei, um Siegfried zu töten.
»Ich, Hagen von Tronje, ich habe Siegfried getötet!«
Das gibt ihm Macht.
Er geht zur Brünhild und sagt: »Ich habe es für Euch getan, meine Königin. Ich habe es getan, ich war der Verräter. Für Euch!«
Sechster Teil
Kriemhilds Rache
Stummes, taubes Lied
Der Dramatiker Friedrich Hebbel sagt über das Nibelungenlied, es sei stumm und taub. Er meint damit, der Verfasser dieses Liedes, wer immer er auch war, hat uns nichts über die Psychologie seiner Helden verraten. Nur aus ihren Handlungen können wir auf die seelische Befindlichkeit der Figuren schließen.
Diesbezüglich geht der Verfasser des Nibelungenliedes ähnlich vor wie ein anderer großer Kollege, über den wir ebenfalls so gut wie nichts wissen, nämlich Homer. Auch die Homerischen Helden geben ihr Innenleben nicht preis. Sie handeln. Ihre Handlungen sind Zeugnisse ihrer Seelen.
Uns heute aber interessiert, was in den Figuren vorgeht. Und
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