Die Nibelungen neu erzählt
Hand auf seinen Arm legt, und er hört eine Stimme nahe an seinem Ohr. Es ist die Stimme von Siegfried. Aber Gunther kann ihn nicht sehen.
Siegfried sagt zu ihm: »Ich bin bei Euch. Habt Vertrauen! Ich habe es versprochen, ich helfe Euch.«
Siegfried hat sich die Tarnkappe des Zwerges Alberich auf den Kopf gesetzt, und unsichtbar steht er Seite an Seite mit Gunther gegen Brünhild.
Brünhild holt aus, mit ungeheurer Kraft schleudert sie den Speer gegen Gunther. Gunther und Siegfried stemmen sich gemeinsam gegen den Schild – und, wie es heißt im Lied: Das Blut sei dem Siegfried aus dem Mund herausgeschossen. So ungeheuer war der Aufprall von Brünhilds Speer.
Aber sie beide, Siegfried und Gunther, sie haben dem Speer standgehalten. Und es sah so aus, als hätte Gunther allein den Speer aufgehalten.
Das hat Brünhild Respekt eingeflößt, o ja. Sie kam über das Feld zu ihm, um sich zu überzeugen. Drei Männer waren nötig, um ihren Speer aus Gunthers Schild zu ziehen. Aber Gunther stand. Er keuchte, aber er stand.
Auch Gunthers Gefolgsleute staunten. Wie auch nicht! Hagen ahnte wohl, daß Siegfried hinter diesem Wunder steckte. Aber er konnte es sich mit all seiner Phantasie und all seinem Scharfsinn nicht erklären. Wie auch! Aber weil er einer war, der alles, aber auch wirklich alles, auf sich bezog, wußte er nur eines: Sollte Gunther diesen Wettstreit überleben, dann war seine, also Hagens, Macht am Hof der Burgunden beendet. Dieser schwache König Gunther brauchte ihn nicht mehr. Diese Einsicht nahm ihn letztlich mehr gefangen, als ein Wunder es je vermocht hätte.
Nun aber war Gunther an der Reihe, den Speer zu werfen.
Siegfried, immer noch unsichtbar neben Gunther, flüsterte ihm zu: »Ihr wollt doch, daß sie Eure Frau wird. Wollt Ihr das?«
»Ja, das will ich«, flüsterte Gunther zurück.
»Dann dürft Ihr sie nicht töten.«
»Ich will sie nicht töten«, sagte Gunther.
»Ihr müßt aber Euren Speer mindestens ebenso fest werfen, wie sie den ihren geworfen hat.«
»Das werde ich – mit Eurer Hilfe, Siegfried.«
»Sie steht allein«, gab Siegfried zu bedenken. »Sie wird nicht standhalten können. Wenn Ihr so fest werft wie sie, dann werdet Ihr sie töten. Wenn Ihr aber weniger fest werft, dann wird sie Euch töten. Denn dann habt Ihr den Kampf verloren.«
»Was soll ich tun?« fragte Gunther.
Und wieder wußte Siegfried Rat: »Nimm Brünhilds Speer«, sagte er. »Heb ihn auf.«
»Er ist zu schwer für mich«, sagte Gunther.
Also half ihm Siegfried. Gunther legte nur seine Hand an den Schaft.
»Wir werden ihr ihren eigenen Speer zurückschleudern«, sagte Siegfried. »Aber wir drehen den Speer um, so daß er mit der stumpfen Seite auf ihren Schild trifft.
Dann wird er sie nicht töten, und Ihr könnt trotzdem der Stärkere sein.«
So machten sie es. Brünhild hob ihren Schild zur Abwehr, aber der Aufprall war so gewaltig, daß sie ihm nicht standhielt. Sie taumelte und fiel.
Und sie mußte zugeben: »Der Sieg in der ersten Disziplin geht an dich.«
Zweite Disziplin: Steinweitwurf.
Brünhild zog ihre Speerwerferrüstung aus, stellte sich breitbeinig vor den Felsbrocken, hob ihn hoch und warf ihn. Sehr weit konnte sie ihn nicht werfen. Vier Meter vielleicht? Dreieinhalb Meter? Drei Meter? Jedenfalls weit genug. Keine zehn Mann hätten ihn so weit werfen können.
»Es ist zwar nicht meine Spezialdisziplin«, sagte sie, »aber ich finde, ich bin nicht schlecht, ich habe Fortschritte gemacht.«
Siegfried und Gunther – Gunther legte ja nur seine Hände an den Brocken –, also Siegfried allein hob den Stein, er wankte, und Gunther wankte mit ihm, und sie hatten die größte Mühe, und Gunther flüsterte zu Siegfried: »Wenn Ihr wenigstens gleich weit werfen könntet! Wenigstens gleich weit!«
Und Siegfried warf den Stein, und der Stein landete einen halben Millimeter weiter, als Brünhilds Wurf gemessen worden war. Und sie mußte wieder zugeben, auch der Sieg in dieser Disziplin war an Gunther gegangen.
»Wie macht er das nur?« zischten die aus Gunthers Gefolge zu Hagen.
Hagen zuckte mit den Schultern. »Er macht es eben und rettet damit unser Leben.«
Nun kam die eigentliche Spezialität der Brünhild: der Weitsprung. Sie war sich absolut sicher, daß sie in dieser Disziplin siegen würde. Sie stieg, wie es die Regeln vorsahen, in eine schwere Rüstung, dann nahm sie einen ungeheuren Anlauf, rannte, sprang ab, flog sehr weit und landete krachend und lachend.
»Es ist nicht
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