Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
die im Park flanierenden Höflinge. Es fiel ihr schwer, sich zu erinnern, dass sie vor gar nicht langer Zeit ebenfalls dazugehört hatte, ein Teil der gigantisch aufgeblasenen Maschinerie gewesen war, die bloß dazu diente, den König zu erfreuen.
Sie sehnte sich nach dem friedlichen, beschaulichen Leben auf La Mimosa. Nach dem Duft von Lavendel und Rosmarin, dem azurblauen Himmel und dem flirrenden Sonnenlicht. Nach jenem Ort, der ihr zum ersten Mal Heimat geworden war.
Die Tage zehrten ihre Geduld auf. Immer öfter dachte sie daran, dass der Prozess gegen Tris beginnen könnte, ohne dass sie den König gesehen hatte. Als ihr Jean wieder mit einem Kopfschütteln bedeutete, dass er keine Neuigkeiten brachte, nahm sie ihn beiseite. »Dann müssen wir uns etwas anderes überlegen. Mir läuft die Zeit davon. Wenn ich keine Audienz bekomme, dann muss ich eine andere Möglichkeit finden, den König zu sprechen.«
»Woran denkt Ihr?«
»Ein Hintertürchen, durch das ich mich einschleuse«, entgegnete Marie. »Als Zimmermädchen oder so.«
»Jede Minute des königlichen Tagesablaufs ist genauestens geplant, das ist nicht so einfach.«
Damit hatte er Recht, aber dem König war es noch immer gelungen, sich freie Stunden zu stehlen. Niemand wusste das besser als sie selbst. Sie musste es schaffen, ihn in einem solchen Moment aufzuspüren.
Am nächsten Vormittag wartete sie, bis der König von seinem Spaziergang im Park in seine Gemächer zurückkehrte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr niemand folgte, betrat sie durch eine verborgene Tapetentür den Geheimgang, den der König benutzte, um seine Räume ungesehen verlassen zu können. Auf diese Art und Weise hatte er sie früher oft besucht oder war mit ihr in einem abgelegenen Salon verschwunden. Im Grunde hätte sie schon viel früher zu dieser List Zuflucht nehmen sollen.
Sie lauschte auf die Stimmen des Königs und seiner Kammerdiener. Als sich die Lakaien entfernten und Stille eintrat, stieß sie die Tür einen winzigen Spalt breit auf. Der König saß auf einer Chaiselongue und las in einem Brief. Er war tatsächlich alleine.
Marie versuchte, ihr hämmerndes Herz zu beruhigen. Die Glocke, die die vor den Türen postierten Wachen herbeirief, befand sich in Reichweite des Königs. Ein Handgriff, und sie wäre arretiert. Egal. Sie musste es riskieren.
Mit zitternden Fingern öffnete sie die Tür ganz und trat in den Raum. Das Seidenkleid raschelte leise, als sie weiterging. Das brachte den König dazu, den Kopf zu heben. Der Brief, den er in der Hand hielt, flatterte zu Boden.
Marie versank einige Schritte von ihm entfernt in einen tiefen Hofknicks. Sie wartete, dass er ihr gestattete, sich zu erheben. Die Sekunden zerrten an ihren Nerven, die Stille lastete mit bleiernem Gewicht auf ihren Schultern.
»Welche Überraschung. Marie Callière oder sollte ich besser sagen Madame de Rossac? Die Unverschämtheit Ihres Gatten scheint ansteckend zu sein.«
Marie verharrte unbeweglich.
»Sie darf sich erheben.« Die Stimme des Königs klang gereizt. »Und Sie darf sich entfernen.«
Marie hob den Kopf und stand langsam auf. »Sire, ich muss mit Euch sprechen. Ich flehe Euch an, gewährt mir einige Minuten Eurer kostbaren Zeit. Es geht um ein Menschenleben.«
»Und ein kleines Vögelchen zwitschert mir bereits den Namen dieses Menschenlebens ins Ohr. Erspart Sie sich die Mühe, Madame de Rossac, ich werde den Mörder meines Neffen nicht begnadigen.«
Marie rang verzweifelt die Hände, machte einen schnellen Schritt auf den König zu und ließ sich vor ihm auf die Knie fallen. »Er hat nichts getan. Er ist kein Mörder ...«
»D'Istrou und de Marens haben mir berichtet, was vorgefallen ist. Und da ich den Chevalier vor wenigen Monaten kennen lernen durfte, zweifle ich nicht daran, dass er jede Möglichkeit wahrnimmt, sich gegen den König zu erheben. Heute ist es Saint-Croix, morgen stürmen fehlgeleitete Untertanen mein Haus und revoltieren gegen ihren Herrscher. Nein, der Sache muss ein Riegel vorgeschoben werden.«
Marie hörte die Entschlossenheit in jedem Wort des Königs. Sie kannte natürlich die unerfreuliche Geschichte aus seiner Jugend. Als Zehnjähriger hatte ihn ein Aufstand - die fronde - ausgehend zwar vom Parlament, aber schnell von den höchsten Adelskreisen weitergetragen, die um Beschneidung ihrer Rechte fürchteten, gezwungen, mit seiner Mutter und dem Kardinal Mazarin Paris zu verlassen und unter ärmlichsten Verhältnissen in St.
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