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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einem aber ihre biegsamen Zungen um die Füße und sabberten halbverdautes Gras darüber. Manchmal waren sie plötzlich verschwunden. Dann hatte der Bauer sie durch den Wald weggeführt, bis das Gras wieder nachwachsen würde. So ging das schon seit Jahren, darüber mußte man weiter kein Wort verlieren.
    Draußen auf der Terrasse lief ich meine Runden, vier einsame Vormittage lang. Der Meister hatte das auf dem Plan angekreuzt, der im Flur hing.
    7.00 Uhr: Morgentraining
    8.00 Uhr: Persönliche Hygiene
    8.30 Uhr: Frühstück
    9.30 Uhr: Spaziergang und Unterricht
    Eine Stunde frei nach dem Mittagessen, dann ein Nachmittagstraining, nach sechs die häuslichen Pflichten. Während der Woche mußten die Schüler, wer immer das sein mochte, die Abende in ihrem Zimmer zubringen. Leni hatte den Plan von der Wand genommen und in mein Zimmer gebracht. Ob ich es in mein Heft abschreiben könne. Sie selbst brauche keinen Plan, sagte sie. Von demAugenblick an, in dem sie morgens die Augen aufschlage, habe sie zu tun. Wenn die Räume im Erdgeschoß aufgewischt seien, bleibe ihr genau eine Stunde für die Schlafzimmer, bevor sie Hunger bekomme und frühstücken müsse. Ein Plan, das sei etwas für Chefs und andere Faulenzer. Ich müsse nicht meinen, daß Herr von Bötticher ganz dicht wäre. Ein unglücklicher Mann, das sei er. Früher, als er gerade auf Raeren eingezogen sei und sie bei ihm angefangen hätten zu arbeiten, habe er keine normale Zeiteinteilung gekannt. Bei Vollmond sei er ohne weiteres die ganze Nacht aufgeblieben, um tagsüber todkrank im Bett zu liegen.
    »Du glaubst mir nicht?« sagte sie. »Die ersten Tage damals hat er im Stehen verbracht, als hätte er Angst vor den Möbeln, die waren nämlich nicht von ihm, er hatte nur ein paar Kisten mit Büchern und Waffen mitgebracht. Ich sah ihn immer nur dastehen, vor dem Fenster, an der Wand, im Garten, der damals noch ein Urwald war, was du jetzt siehst, ist Heinz zu verdanken. Wir haben dafür gesorgt, daß auf Raeren alles seine normale Ordnung hat. Weißt du, meine Mutter hat immer gesagt: Wenn ein Mensch kein Regelmaß kennt, bleibt nichts von ihm übrig. Nur ein Häufchen Elend und Notdurft. Und so ist es.«
    Noch eine Runde, ich steigerte das Tempo. Der Wind trieb Glockengeläut aus einem abgelegenen Dorf heran. Irgendwo wurden also Menschen zusammengetrommelt, um ihre Kinder in Jacken zu stecken und hinauszuschicken. Das Bimmeln verstummte, und ich hörte nur noch meinen Herzschlag. Alle diese entmutigenden Geräusche aus dem Inneren, das Pumpen von Blut, Knacken von Gelenken, Keuchen: Allein mit seinem murrenden Körper, fühlt jeder Athlet sich einsam. Ich wollte aufhören, dochdie Türen des Fechtsaals flogen auf, und da war der Meister. Er trug eine Lektionierjacke aus diesem schwarzen Leder, das so fest ist, daß es steif um den Rumpf steht. Zugegeben, er trug sie mit Verve. Nicht wie Louis, der in seinem Panzer krumm lief, mit baumelnden Armen, wie ein auf den Rücken gefallener Käfer.
    »Weitergehen, auf Zehenspitzen. Arme ausgestreckt, so hoch wie möglich. Höher. Schneller. Hopp hopp. Weiter auf den Fersen, Knie hoch, entspannen.«
    Nach jeder Übung sah er auf die Uhr. Ich mußte meine Waffe ergreifen, dreißig Schritt-Ausfälle machen über die Länge der Terrasse und alle Angriffe parieren, die er auf mich startete. »Du hast noch eine Viertelstunde, um dein Gestümper zu verbessern.«
    Er tippte mir mit seinem Florett an den Hintern. Eine frivole Geste, das Gesäß darf nicht berührt werden. Die Trefffläche eines Florettfechters beginnt unterhalb seiner Kehle und endet am Schritt, das ist der Körperbereich, mit dem er auskommen muß, eine Fläche etwa so groß wie ein schlampig ausgegrabener griechischer Gott. Ich schüttelte meinen Unterarm, trappelte auf der Stelle, nahm Stellung, drehte meine Waffe zum Handballen hin, starrte auf seine Florettspitze, auf seine Augen. Oh, hätte er eine Maske getragen, hätte ich es bestimmt geschafft.
    »Verstehst du jetzt, warum ich gestern gefragt habe, ob du gegen dich selbst fechten kannst?« fragte er, während er mit einer blitzschnellen Kreisparade meine Waffe wegschlug. »Ich weiß, was du tust, bevor du es auch nur beschlossen hast.«
    Ich glaubte nicht ans Trainieren vor dem Spiegel. Als ob man nichtsahnend auf sich selbst zuschnellen könnte. Ein Spiegelbild stellt sich im Bruchteil einer Sekunde wiederher, doch wenn man den Spiegel wegnimmt, schleichen sich die Fehler erneut ein wie Diebe bei

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