Die niederländische Jungfrau - Roman
Verstümmelung keine Bewunderung mehr ab, sondern Mitleid, und zuviel Mitleid geht über in Irritation. Bei uns auf dem Markt saß früher ein blinder Belgier ohne Beine. Er nahm Geld entgegen, ohne ein Wort zu sagen, so daß man sofort wußte, es war sowieso nie genug. Hier blieb eine Schuld offen. Als klar wurde, daß jeder Kontaktversuch an diesen leeren Augen und nackten Stümpfen abprallte, wurde er gemieden. Ein Kriegsmahnmal, das niemand haben wollte, in einem Land, das müde vom Zuschauen war. Natürlich, die paar Cents wogen die Millionenrechnung nicht auf, die Belgien nach dem Krieg für die Aufnahme von Flüchtlingen präsentiert worden war, wohingegen mandem Kaiser ein Schloß in den Schoß gelegt hatte. Doch es herrschte allgemeine Erleichterung, als der Veteran nicht mehr auf dem Platz erschien. Das war’s, sagte mein Onkel Sjefke, den sind wir los. Der Krieg war schon zehn Jahre vorbei, und diese Belsje sollten jetzt mal mit ihrem Gequengel aufhören. Denn jeder Maastrichter erinnerte sich an die reichen Heimtücker, angeblich Flüchtlinge, die 1914 die Mietpreise in die Höhe trieben, die Arbeiten zu unfair niedrigen Preisen verrichteten, weil sie daneben noch Stütze bezogen. Vielleicht war dieser vom Schicksal Gebeutelte ja auch so ein undankbarer Flegel gewesen, so einer, der sich ewig über das Essen in der Gastfamilie beklagte, so ein Saufbold, der aus Langeweile doch wieder zurückgegangen war, um an der Front den Helden zu spielen. Oder, auch das war möglich, er war gar kein Held gewesen, sondern ein ganz gewöhnlicher Schmuggler, der unter dem »Todesdraht« durchgekrochen war. Dann hatte sein Körper diesen Stoß von zweitausend Volt zwar überlebt, aber seine Beine waren verkohlt wie Brennholz. War alles möglich, wäre nicht zum ersten Mal passiert. Meine Mutter zischte durch die Zähne, es seien Kinder zugegen, aber Onkel Sjefke schnaubte nur und schlug die Arme übereinander. So. Er hatte nicht vor, mit irgend jemandem Mitleid zu haben. Mit Mitleid mußte man vorsichtig sein, reichte man den Menschen den kleinen Finger, nahmen sie gleich die ganze Hand.
Ich ging langsam in die Hocke, bis mein Hintern das sanfte Seifenwasser in der Waschschüssel berührte. Ich hatte keine Angst vor von Bötticher. Nett fand ich ihn natürlich auch nicht, was bildete der sich bloß ein. Ich konnte versuchen, Mitleid mit ihm zu haben, aber Mitleid ist für einen Fechter eine untaugliche Gefühlsregung. Mankann Mitleid bekommen, wenn man zehn Punkte vorliegt, und dadurch 15 zu 10 verlieren, worauf sich der andere triumphierend, ohne auch nur eine Spur von Gewissensbissen, die Maske vom Kopf zieht, um sich bei einem zu bedanken. Kein Mitleid, aber was dann? Ich mußte mir eine Haltung geben. Jetzt wieder diese Reitstunde. Wenn ich meine Würde während einer halben Stunde kaum persönlicher Hygiene noch nicht verloren hatte, dann blühte mir der Verlust aber bestimmt auf dem Rücken eines Pferdes, angebunden an einer Longe, die er fest in der Hand hielt. Als erstes schon mal war dieses Pferd gar nicht so ohne Mucken. Es war ein mausgrauer Berber, eine arrogante Wüstenstute. Von Bötticher hatte sich vom kämpferischen Ruf dieser Rasse beeindrucken lassen. »Auf einem Berberrücken sind viele Schlachten gewonnen worden«, sagte er, als wir zur Wiese gingen. Der Mut sank mir in die viel zu großen Reitstiefel.
»Der Prophet Mohammed, König Richard II. und Napoleon schworen auf Berber. Napoleon mußte sein Pferd Marengo bei Waterloo hergeben. Da ging es schon auf die dreißig zu, galoppierte aber noch jahrelang für den Feind. Sogar nach seinem Tode bewies sein Huf noch Nutzen, als Tabakdose auf dem Rauchtisch von General Angerstein.«
Von Bötticher brauchte nur auf die Stute zu zeigen, da kam sie schon auf ihn zugetrabt. Sie war nicht groß, das war schon mal gut, aber sobald sie mich roch, drehte sie mir den Hintern zu.
»Loubna, sei lieb«, flötete von Bötticher.
Sie spitzte die Ohren, schielte mit einem Auge zu ihrem Herrn. Würde ein Mensch sich so benehmen, würde man es nicht tolerieren, doch von Bötticher hatte alle Geduld der Welt. »Na, komm schon.«
Ein Wusch mit dem Schweif, da kam sie endlich. Er legte ihren Kopf an seine Wange, während er ihr das Gebiß hinhielt. Danach schob er die Finger unter den Nasenriemen, um zu prüfen, ob er nicht zu stramm säße, und ließ den Sattel mit solch behutsamer Präzision auf ihren Rücken gleiten, daß ich mich fragte, ob das edle Fräulein mich
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