Flucht über den Himalaya
Liebe Chime, lieber Dhondup, liebe Dolker, liebe Lhakpa, liebe Pema, lieber Tamding, lieber Lobsang!
Nun ist es neun Jahre her, daß wir einander an der nepalesischtibetischen Grenze auf fast sechstausend Metern Höhe begegneten. Ihr wart auf der Flucht, und ich war auf der Suche nach einer Flüchtlingsgruppe, um das Schicksal tibetischer Kinder, die von ihren Eltern ins Exil geschickt werden, in einem Film zu dokumentieren. Damals ahnte ich nicht, daß ich in den Protagonisten meines Filmes auch Freunde fürs Leben finden würde.
Heute ist der 17. März 2009. Es ist der 50. Jahrestag der Flucht Eures religiösen Oberhauptes: Am 17. März 1959 verließ der Dalai Lama seinen von Maos Armee umzingelten Sommerpalast in Lhasa. Wenige Wochen später setzte er seinen letzten Fußabdruck auf tibetische Erde. Bis heute wartet der Dalai Lama auf eine Rückkehr in seine Heimat. Rund 130000 Exil-Tibeter hoffen mit ihm – so wie Ihr: Seit Eurer Flucht aus dem Schneeland habt Ihr Eure Familien in Tibet nicht wiedergesehen. Jedes Jahr zu Losar, dem tibetischen Neujahr, wartet Ihr vergeblich auf den lange ersehnten Besuch Eurer Eltern. Bis heute ist es nur Dhondups Mutter gelungen, aus Tibet herauszukommen, um ihren Sohn wiederzusehen. Als sie Dich, Dhondup, Eurem Fluchthelfer übergab, warst Du ein kleiner, achtjähriger Junge und reichtest ihr gerade mal bis an die Brust. Als Deine Mutter dann sieben Jahre später vor einem Fünfzehnjährigen stand, der sie um zwei Kopflängen überragte, erkannte sie Dich zunächst nicht wieder.
Der Himalaya trennt Mütter und Väter von ihren Kindern, er teilt das tibetische Volk in zwei Teile: In jene, die bleiben – und in jene, die gehen. So wie einst die Mauer in Deutschland. Doch in Wahrheit ist es nicht der Berg aus Stein und Eis, der Familien auseinanderreißt, sondern die große Sprachlosigkeit zwischen der chinesischen Regierung und der tibetischen Exilregierung. Seit Jahren bemüht sich der Dalai Lama um einen Dialog mit China. Seine Vision für Tibet ist eine echte Autonomie – ähnlich wie sie in einem kleinen Bergland gelebt wird, das wir hier im Westen › Südtirol ‹ nennen.
Der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zwischen Tibetern und Chinesen, auf eine Rückkehr des Dalai Lama in seine Heimat und auf das Wiedersehen aller Exilkinder mit ihren Familien in Tibet widme ich unser Buch.
Es ist Eure Geschichte. Und die Geschichte Eurer Eltern. Sie haben Euch nicht weggeschickt, weil sie Euch nicht haben wollten. Sie wünschten sich eine Zukunft für Euch. Sie wollten, daß Ihr jeden Abend satt werdet und nicht hungrig zu Bett gehen müßt. Sie wollten, daß Ihr eine Schule besucht, in der die Kinder des Schneelandes in ihrer eigenen Sprache, Kultur und Religion zu frei denkenden Tibetern heranwachsen können. Liebe äußert sich manchmal im Loslassen.
Eure Eltern waren sicherlich sehr verzweifelt, als sie sich zu dieser Entscheidung durchgerungen haben. Und unendlich traurig, Euch schließlich weggehen zu sehen.
Ich kenne Eure Mütter und Väter nicht. Ebensowenig Eure Geschwister, Euer Heimatdorf, Eure Freunde und Tiere. All das, was Ihr in Tibet zurücklassen mußtet, kenne ich nur aus Euren Erzählungen. Ich weiß nicht, ob der Rhododendron bei Euch im Frühling oder Sommer blüht, wie breit der Yellow River ist und wie chinesische Krokantpralinen schmecken.
Aus den vielen kleinen Puzzleteilen, die Ihr mir in die Hand gelegt habt, habe ich versucht, ein Bild von den dramatischen Ereignissen Eurer Kindheit zu legen. So manches Teilchen fehlte – vor allem bei den Kleineren unter Euch, deren Erinnerung nach der Flucht sehr schnell verblasste. Ihr mußtet vergessen, um jenseits des Himalaya ein neues Leben zu beginnen. Manche Details Eurer Geschichte habe ich weggelassen oder verändert, um Eure Familien für die chinesische Polizei nicht identifizierbar zu machen. Und so ist dies kein Sachbuch, das Fakt an Fakt aneinanderreiht, sondern mein ganz persönliches Bild von Eurer Geschichte. Ich hoffe, Ihr findet Euch darin wieder.
Eure Zazie-Maria
Unsere Flüchtlingsgruppe
Little Pema
Ein siebenjähriges Mädchen aus der Provinz Kham. Die Mutter kümmert sich um Hof und Tiere, der Vater ist Alkoholiker. Er schlägt Little Pema. Die Mutter sieht nur einen Weg, das Kind vor dem Zugriff des Vaters zu retten: den ins Exil.
Tamding
Ein zehnjähriger Junge aus der Provinz Amdo. Seine Eltern sind verarmte Kleinbauern. Tamding hat zwei ältere Brüder.
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