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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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in Brünn so großartige Arbeit geleistet hat. So vielen verstümmelten Soldaten, die nicht mehr essen oder sprechen konnten, hat er wieder ein Gesicht gegeben. Ich las, daß er, weil der Strom der Verwundeten nicht abriß, neue Techniken ausprobieren konnte und daß der Zeitdruck seine Phantasie angeregt hat. In Friedenszeiten, mit all den entsprechenden Vorschriften, wäre man vielen Problemen aus Bequemlichkeit aus dem Weg gegangen. Für einen Soldaten fertigte er eine Hand aus dem linken Fuß an, ein anderer bekam eine Nase aus Wangengewebe. Der Krieg ist ein blutiger Lehrmeister. Ich möchte Dir daher ans Herz legen: Glaub mir, daß er für Dich keineswegs vergeblich war! Zerstörung mag Dein Ziel gewesen sein, wie es nun mal das Ziel von Soldaten ist, doch der Nutzen läge im Aufbau. Mit Deiner Wiederherstellung an jenem beklemmenden Tag des Jahres 1914 sollte die Wiederherstellung vieler ziviler Patienten nach Dir beginnen. Das war mein Vorsatz, als ich Dich fand. Die Wunden an Deinen Gliedmaßen hatten wir, so gut es ging, gesäubert und verbunden, Dein gebrochenes Bein hatte ich bereits festgestellt, doch meine Aufmerksamkeit galt in erster Linie Deinem Kopf. Etwas darin mußte dieses friedliche Lächeln ausgelöst haben. Erst im Krankenhaus verlorst Du das Bewußtsein, nicht aber Dein Lächeln. Ich hatte gerade die Lokalisationslehre studiert, und so gingen meine vom Gestank des Todes und der Verwesung verwirrten Gedanken mit mir durch. Ich wunderte mich über Dein Lächeln und fragte mich, wo die ganze Kriegslüsternheit, die aus Deiner Ausstaffierung sprach, geblieben war. War es vielleicht möglich, diese sinnlose Kampfeslust durch einen simplen Eingriff zu entfernen? Könnte dieses ganze Geld für den Krieg nicht besser zugunsten der Hirnforschung verwendet werden, um den präzisen Sitz der Friedfertigkeit in unserem Nervensystem zu finden?
    Natürlich verschwanden diese idealistischen Überlegungen, sobald wir das Hospital erreichten, schließlich mußte dort rasch gehandelt werden. Inzwischen aber denke ich häufig an den berühmten Esser, der unter demselben Zeitdruck mit Meisterleistungen in der Kopfchirurgie Furore machte. Dank seines neurologischen Wissens entfernte er die Kugel aus dem Kopf eines Soldaten, der schon fast aufgegeben worden war, ohne Hirngewebe zu beschädigen. Warum schlug er danach den Weg der restruktiven Chirurgie ein? Was schreckte ihn an der Wissenschaft vom Gehirn ab? Jeder, der diese geheimnisvolle Landschaft erforscht, hat Angst vor den Folgen seiner Erkenntnisse für unser Selbstbild. So wissen wir inzwischen, daß das Gefühl und der Verstand ihren Sitz in einer jeweils eigenen Hemisphäre haben. Die Symmetrie unseres Gehirns, eine Schönheit, nach der wir alle so gern streben, ist einzig und allein eine anatomische Gegebenheit.
    Ich habe Dir erzählt, daß Symmetrie das einzige war, was Dir Ruhe schenkte, als Du später in großer Verwirrung erwachtest. Die Gegenstände auf Deinem Nachttisch mußten in Reih und Glied gelegt, die Vorhänge auf die gleiche Weise geschlossen werden, in einem hartnäckigen Streben nach Ordnung, die in Deinem Kopf so dramatisch gestört war. Als Du, mein gefundener Bodenschatz, für geheilt erklärt wurdest undCalvariënberg verlassen mußtest, nahm ich mir vor, eine Existenz im Dienste der Neurologie zu begründen.
    Vielleicht interessiert Dich diese Materie nur wenig. Du sollst aber wissen, daß ich lediglich eine Entschuldigung zu formulieren versuche, um Dir Dein Schicksal zu erleichtern. Ich muß Dich nämlich erneut enttäuschen. Die Antwort auf die Frage, mit der Du mich losgeschickt hast, lautet leider, daß ich Dein Pferd nicht gefunden habe. Ich habe mich beim Hufschmied des Dorfes erkundigt, habe das Aussehen und das Brandzeichen Deiner Stute etlichen Bauern in der Gegend beschrieben. Sie wußten von nichts, wahrscheinlich hätte es sie genausowenig interessiert, wenn es ein französisches oder belgisches Pferd gewesen wäre. Zwei ließen mich immerhin ihre Ställe inspizieren, aber da standen nur solche großen Arbeitsgäule: Limburger Zugpferde oder so. Übrigens, sollte Dich das trösten: Wir haben seinerzeit den Soldaten den Auftrag gegeben, die krepierenden Pferde sofort von ihrem Leiden zu erlösen, da wir selbst ja keine Waffen trugen. Sie haben diese Bitte auf der Stelle erfüllt.
     
    In Erwartung unserer Versöhnung grüßt Dich
     
    Dein Freund Jacq

8
    Am nächsten Tag kamen sie, mit Gehupe. Zehn Mann mit einem

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