Die niederländische Jungfrau - Roman
wie ihre Vorfahren es vor sechstausend Jahren getan hatten. Da war sie. Prachtvolles Roß, mit gesenktem Kopf scharrend. Die Stute roch noch nach dem Sommer, den man vom Feld geholt hatte, damit er auf dem Dachboden trocknete. Sie schnupperte ebenfalls und nahm meine Erleichterung wahr. Nach diesem wortlosen Gespräch kehrten wir nach Raeren zurück, wo wir bleiben würden, bis der Herr nach Hause kam.
20. September 1917
Lieber Egon,
wenig ist so friedlich wie ein Schlachtfeld nach der Schlacht, wenn sich der Staub wieder gelegt hat, das Blut im Boden versickert ist und die Leiber geborgen sind. Diesmal schien die Sonne nicht so unerbittlich wie vor drei Jahren, als wir uns auf die Fäuste bissen als Schutz gegen den Gestank (Romadur, sagte mein Rotkreuzkollege Gerard, stell dir vor, es ist Romadur, dann hält man es aus), vielmehr war der Himmel bewölkt, sogar ein wenig feucht. Dennoch sah ich in der Ferne ein paar Männer, die Weizen schnitten. Recht haben sie, dachte ich, die Erde trauert nicht, weshalb also sollten sie sich mit irgend etwas aufhalten? Natürlich weiß ich nicht, woran sie dachten, während sie sich über den Boden beugten. Ich erinnerte mich jedenfalls an den sonnigen Tag des Jahres 1914.
Wir hatten beschlossen, nicht zum Schlachtfeld zu fahren, sondern auf einen deutschen Wagen zu warten, der uns die Verwundeten bringen sollte, als uns die Nachricht erreichte, daß er mit Motorschaden liegengeblieben war. Als wir bei dem bewußten Wagen eintrafen, war der Offizier darin bereits gestorben, worauf die Pfleger, Gerard ausgenommen, rechts umkehrtmachten. Da hinten wäre nichts mehr zu helfen, wurde uns versichert. Gerard blieb, weil ihm der Sinn nach Abenteuern stand, der Narr! Ich blieb, um den Männern beim Graben zu helfen. Sie hatten zusammen mit dem Patienten eine Schaufel transportiert, weil sie den Tod wie einen lästigen Stammgast erwarteten, doch an allem merkte ich, daß sie keine Kraft mehr hatten, den Toten zu dem mehr als vollen Feldgrab zurückzuschaffen, das sie hinter sich zugeschaufelt hatten. »Ich grabe nicht«, sagte der eine immerwieder, »ich nicht.« Er schaute mich an, ohne mich anzusehen, aus geschwollenen Augen heraus, und reichte mir dann den Spaten. Gerard und ich gruben abwechselnd. Bis wir das Grab fertig hatten, hatte der andere Soldat den Motor wieder zum Laufen gebracht, doch zurückfahren wollten sie erst nicht. Dort sei kein einziger Verwundeter mehr zu finden, sagten sie, nur der Sensenmann, der auf der Suche nach einem Rest von Leben umherstreune, wie ein Trunkenbold, der kurz vor der Sperrstunde die Gläser der anderen daraufhin untersucht, ob noch ein Schluck darin ist. Ja, wenn ich auf die anderen gehört hätte, auf meine Pfleger vom Roten Kreuz oder auf Deine Kampfgefährten, dann hättest Du allein auf den Tod warten müssen.
Als wir dort eintrafen, schlug uns ein fürchterlicher Gestank entgegen. Vielleicht gab es ja wirklich keine Verwundeten mehr, aber, Herr im Himmel, dem Geruch nach zu urteilen reichlich Wunden. Das Schlachtfeld, nicht mehr als eine Wiese vor einem schwelenden Bauernhof, war übersät mit Pferden. Sofern es bereits Kadaver waren, lagen sie mit aufgeblähten Bäuchen nach oben, aber einige befanden sich noch in Todesnot, mit zitternden Hufen und aufgerissenen Nüstern … Schnell ging ich von einer Leiche zur nächsten, und obwohl ihre Aufzüge so schön waren, waren sie selbst häßlich und staksig geworden, als wären sie aus Holz geschnitzt. Du nicht. Du lagst ruhig in Deinem Graben, wie ein gut eingepacktes kleines Kind. Es schien Dich nicht zu kümmern, daß Dir die Würmer bereits aus den Wunden krochen, und Du hast nicht gejammert, als wir Dich zum Wagen trugen. Die Fahrt nach Maastricht dauerte lang, doch Du bliebst, ein schwaches Lächeln auf Deinem blutigen Gesicht, zwischen uns liegen. Mit Dir schwiegen wir alle vier. Ich denke nicht, daß die Deutschen es geschafft hätten, noch ein Grab zuschaufeln. Sie müssen gedacht haben: wenigstens dieser eine. Auf Deinem weiteratmenden Körper ruhte ihre ganze Hoffnung. Sie wußten auch, daß er jetzt mir gehörte, nach dem Motto: Was du findest, darfst du behalten. Du warst mein Bodenschatz, den ich eingehend untersuchen durfte.
Kriege sind gut für die Medizin. Dem Krieg von 1870/71 haben wir die Erfindung der Antisepsis zu verdanken, und heute erregen an den Universitäten die Arbeiten Jan Essers Aufmerksamakeit, unseres eigenen, niederländischen Chirurgen, der
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