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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Stück von mir. Wann war er denn er selbst? Da ging nun meine erste Liebe. Da ging ein Mann, der lieber keine Geschichte gehabt hätte, der sich vorgenommen hatte, in einem beständigen Heute zu leben, ganz wie sein Hund. Dieser Mann war bereits ein völlig anderer als der, den ich belauert hatte. Über diesen Mann brauchte ich nichts in Erfahrung zu bringen, er erzählte es schon von selbst, ungefragt und achtlos gab er seine Vergangenheit preis, in der mein Vater und ich eingeschlossen waren wie alte Ernte in vergessenen Gläsern. Wer wollte, durfte diese staubigen Geschichten haben, denn es kamen neue, frischere.
    »Ich war nicht wiederzuerkennen«, rief er in den Wind, »ein Schatten meiner selbst. Dein Vater wird dir erzählt haben, an welcher Störung ich litt. Ein manischer Zwang zu Regelmaß und Gleichgewicht. Alle Dinge mußten zueinanderpassen, den ganzen Tag lang. Manchmal habe ich von morgens bis abends getüftelt, bis es stimmte, aber es stimmte nie! Dann traute ich mich nicht, die leiseste Bewegung zu machen, weil mein Bettzeug sonst falsche Falten werfen würde. Nachts fand ich, der Mond müsse zurechtgefeilt werden, weil er das All aus dem Gleichgewichtbrachte. Dann wieder irritierte mich der Baum, der nie in der Mitte meiner Aussicht stand, ich bat die Schwester, das Bett zu verrücken, um diesen Fehler auszugleichen, sie weigerte sich. Ihr rechtes Auge war größer als das linke, darum hielt ich die Augen geschlossen, wenn sie ins Zimmer kam. Später machten dein Vater und ich vorsichtige Spaziergänge. Sträucher, die einseitig bewachsen waren. Pflastersteine, einer immer anders als der nächste. Aus dem Tor, unter dem wir jeden Tag durchmußten, war ein Stein herausgefallen, das Loch hatte man viel zu nachlässig zugeschmiert. Aber es beschränkte sich nicht auf visuelle Unordnung. Mir drehte sich der Magen um, wenn Vogelgesang mitten in einer Triole abbrach, so daß die Tonfolge nicht mehr stimmte. Jacq erzählte mir, wie diese Störung heißt, ich habe den Namen sofort vergessen. Die Diagnose konnte mir gestohlen bleiben, die Störung war die logische Folge dessen, was er mir angetan hatte.«
    Er warf mir einen prüfenden Blick zu. Er wußte, daß ich wußte, was er jetzt sagen würde. Ich hatte ja schon alles gelesen. Er mußte es nur etwas deutlicher machen, die Briefe mit Anmerkungen versehen.
    »Sie hatten mich von meiner Arbeit weggeholt, die ich nicht beenden konnte, und sperrten mich in Hilflosigkeit ein«, sagte er und nickte. »Plötzlich wachte ich in einer niederländischen Fluchtburg auf, einem Vaudeville mit geklinkerten Straßen, Vogelgezwitscher, schiefen Krankenschwestern, Requisiten einer irreführenden Alltäglichkeit, während ein paar Kilometer entfernt das wahre Leben weiterzog. Wer würde davon nicht verrückt werden? Daß sie mich dort ein paar Monate lang herumgeistern ließen, mochte ja noch hingehen, aber mich in diesem Zustand auch noch verewigen zu lassen ging wirklich zu weit.Ich versuchte, der Kamera auszuweichen. Wenn ich damals gewußt hätte, was mir bevorstand, daß sie mich noch weiter wegstecken würden, wäre ich wirklich verrückt geworden. Auf diesem Foto war ich noch ein Schatten, danach, im Lager, wurde ich völlig unsichtbar. Dein Vater hat nie begriffen, daß mein Geist erst im Krieg zur Ruhe kommen würde.«
    Er bückte sich, um ein Blümchen aus der verkrusteten Erde zu ziehen. Auch wenn die Sonne immer schwächer und kürzer schien, diese schneeweißen Blütenblätter standen noch immer im selben Winkel zueinander, wie groß war er gleich noch mal – 137,5 Grad. Auf einmal sah ich meine Eltern vor mir gehen, während einer unserer stampfenden Sonntagsspaziergänge. Ich sah, wie die Stiefel meines Vaters das Unterholz zertrampelten, während meine Mutter sich in seiner Fußspur vorwärtsschleppte, genau besehen konnte sie wirklich nicht mit ihm Schritt halten, vielleicht wäre sie lieber Arm in Arm mit ihm gegangen, aber mein Vater war der Meinung, sie sei eine Fremde, weil sie an Märchen glaubte. Vielleicht hätte er ihr dann und wann selbst eine Geschichte erzählen sollen, etwas Erstaunliches über die heilige Geometrie in der Natur, die logarithmischen Muscheln, sechseckigen Bienenwaben und Basaltsäulen, dann hätte sie ihm zugehört, wie sie dem Pfarrer zuhörte, und wenn sie sagte, das sei die Hand Gottes, hätte er nur zu nicken brauchen, weil er es schließlich auch nicht besser wußte. Dann hätten sie vielleicht doch eine gute Ehe

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