Die niederländische Jungfrau - Roman
zogen sie den Gewürzkuchen von Heinz zu sich heran. Friedrich leckte sich nacheinander alle Finger. Es war eine pompöse Schrift gewesen, nicht von einer Hand, die erst seit zehn Jahren ordentliche Sätze schreiben konnte. Die Buchstaben zeichneten sich durch große Schwünge aus, wie in Egons alten Briefen, aber ob diese Schrift im Verlauf von zwanzig Jahren, in denen noch viele andere Briefe geschrieben worden waren, so übertrieben geblieben war? Mit dem Verstreichen der Jahre schrumpfen nicht nur unsere Pläne, sondern auch unsere Gesten.
Nein, mit Egon hatte ich nie getanzt. Julia hingegen hatte ihn soweit bekommen, in ihren Armen hatte er den Ansatz zu einem Walzer gemacht. Mir würde er wahrscheinlich keinen Tanz gewähren. Dann würde er führen müssen, während ich mein möglichstes tun würde, seinen steifen Schritten zu folgen, weil es angeblich ein Tanz war,den ich noch nicht kannte. Ich betrachtete seinen Rücken in dem Baumwollhemd und dachte zufrieden, daß ich wußte, wie er sich anfühlte. Warm, weich, fest wie ein in der Sonne poliertes Möbelstück. Wenn ich mit meinen Händen darüberstrich, wußte ich, daß ich sie auf halbem Wege anheben mußte, weil dort eine Unebenheit war. Eine häßliche Warze. Weiter unten, an seinem Kreuzbein, wurde es noch wärmer, da fühlte es sich nicht mehr wie Holz an, sondern wie Metall. Da würde ich ihn nicht halten, sollten wir je tanzen.
Alles schwieg. Die Brüder untereinander, der Knecht dem Herrn gegenüber, der Herr dem Knecht. Ihr Mißtrauen war fast mit Händen zu greifen, alle losen Vermutungen und Gerüchte, die die ganze Zeit in der Luft gehangen hatten, verbanden sich an diesem Tisch zu einem festen Faden. Ich wollte es nicht hören, wenn der Knoten durchschlagen wurde. Ich ging zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Komm mit, ein Stück spazieren«, hörte ich mich sagen, mit der vernünftigsten Stimme, die in diesem Augenblick in der Küche hätte ertönen können, »ich möchte dich etwas fragen.«
Er nickte und stand sofort auf, viel freundlicher gelaunt, als ich erwartet hatte, und auch viel freundlicher als die, die schweigend sitzen blieben. Als ich von draußen durchs Fenster hineinschaute, saßen sie noch genauso da, die Köpfe so heiß, daß die Luft darüber sich kräuseln konnte. Draußen lag die Temperatur um den Gefrierpunkt. Das Gras blieb hart unter unseren Füßen und unter den Pfoten des Bernhardiners, der in einer Wolke unbekümmerter Hundewärme vor uns her rannte. In der Mitte des Felds fand er einen Stock, den er Mal um Mal hochwarf undwieder auffing, er schüttelte den Kopf, um sein Phantasiegebilde zu töten.
»Ich würde sofort mit ihm tauschen, und du?« sagte Egon. »Bißchen herumrennen im Hier und Jetzt, das muß ein Segen sein. Unsere Geschichten unterscheiden uns von den Tieren, aber was sollen wir damit? Ich hätte lieber keine Geschichte.«
Er spähte in die melancholische Ferne seines herbstlichen Landguts. Ich wartete darauf, daß er etwas erzählen würde, etwas, bei dem ich ihn begleiten könnte, aber er sagte nichts mehr. Ich verschränkte die Arme, weil es ausgeschlossen war, daß wir jemals untergehakt gehen würden.
»Warum hast du diese Briefe nie abgeschickt?«
Er zwinkerte mir zu, so kurz, daß es genausogut ein Irrtum hätte sein können. Ihm war es bestimmt egal, ich ging ja doch weg.
»Es hätte nicht den geringsten Sinn gehabt«, sagte er leichthin. »Post aus den Internierungslagern lief immer durch die Zensur. Meine Briefe wären durch die falschen Hände gegangen, spionierende Finger hätten nach anstößigen Worten geblättert. Das ist ein bestimmter Typ Mensch, ich kenne sie, es sind keine Helden, aber auch keine Mistkerle, sondern einsame anonyme Menschen, die erschrecken, wenn ein Wort an sie persönlich gerichtet wird. Ich schrieb meine Briefe, um sie später abzuschicken, aber dann ging der Krieg zu Ende, und es war nicht mehr nötig.«
Er wartete, weil es nun an mir war, die praktischen Dinge anzusprechen. Ich gehorchte, wie ich es in den vergangenen Wochen getan hatte.
»Ich fahre.«
»Das weiß ich doch.«
»Aber ich fahre noch diese Woche, und ich hätte gern, daß mein Vater mich abholt.«
Er nickte. »Hast du das Foto noch?«
Ich schwieg verblüfft.
»Das Foto, das du beim Essen herumgezeigt hast, von deinem Vater und diesem Mann?«
»Das warst du.«
»Nein«, sagte er mit schwachem Lächeln. »Ich war damals nicht ich selbst.«
Er entfernte sich ein
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