Die niederländische Jungfrau - Roman
Mein Mann hat gesagt: Dann stellen sie sich mal in den Dienst anderer, anstatt sich nur gegenseitig zu dienen.«
Die Oberfläche ihrer Augen brach auf, so wie Wasser durch Eis bricht. Das war nicht gespielt, denn gleichzeitig schwoll ihre Nase an und ihr Mund kräuselte sich zu einem clownesken Grinsen, das ihr selbst niemals gefallen hätte. Sie ergriff meine Hände, die ihren waren feucht.
»Weißt du«, sagte sie, »die Eingeborenen in Kamerun glauben, daß Zwillinge göttlich sind, weil ihre beiden Seelen im selben Moment sichtbar werden. Aber im Grunde sind wir alle Zwillinge. Sie glauben, daß jeder Mensch eine Seele hat, die alles erlebt, daß wir aber auch noch eine Schattenseele besitzen, die uns folgt und beobachtet, die sich zurückhält, bis der Tod kommt, und dann unsere Erfahrungen dem nächsten Körper weitererzählt. Wäre das nicht schön? Wenn alles festgehalten würde?«
Zur Illustration deutete sie auf ihren eigenen ulkigen Schatten auf der Wand. Ich murmelte, daß ich die Partie genossen hätte, jetzt aber ins Bett ginge. Darauf zuckte sie mit den Achseln und ging durch die Terrassentür in den Abend hinaus. Einfach weg. Kein Autobrummen, nichts. Lediglich in Höhe der Eiche flimmerte etwas, was unverkennbar weiblich und hochmütig war, aber das konnte genausogut einer von Heinzens Geistern sein. Der Sturm preßte die Luft ums Haus zusammen. Die Fenster zogen sich zu, als wollten sie die beklemmende Stille bewahren, die sich jetzt immer früher einstellte. Vor einem Monat hatte Egon zu dieser Stunde einfach eine Partie Karten mit Heinz gespielt, dann waren sie in Streit geraten, worauf eine Flasche entkorkt werden mußte, doch jetzt wardie Küche leer, auf dem Herd stand nichts, und die Asche im Kamin war ausgekühlt. Auf dem Weg nach oben hörte ich die Stufen schon nicht mehr, auf einmal nahmen und nahmen sie kein Ende, als läge das Dachgeschoß eine Etage höher als sonst. Das Gefühl der Entfremdung war jetzt so stark, daß ich mir aufstampfend wünschte, es wäre Tag und ich könnte Egon auffordern, mich zum Bahnhof zu bringen. Ich wollte nicht mehr schlafen gehen, ohne daß mir jemand gute Nacht wünschte. Ich fühlte mich einsamer, als ich je vorgehabt hatte, mich zu fühlen, und falls ich tatsächlich eine Schattenseele besaß, so hielt sie sich ausgesprochen zurück. Vielleicht war mein Leben es nicht wert, beobachtet zu werden, vielleicht geschah nichts, was dereinst übermittelt werden mußte. Vielleicht war Raeren undurchdringbar für Schatten, so daß sie wie hoffnungsvolle Bettler jenseits der Außenmauer herumlungerten.
Und trotzdem. Als ich die Tür meines Zimmers öffnete, spürte ich, daß kurz davor eine andere Hand die Klinke angefaßt hatte. Auf meinem Bett lag ein Brief. Die Rückseite nach oben, als wäre der Absender geflüchtet, sobald er den Umschlag zugeklebt hatte. Auf der Vorderseite stand mein Name, in einer schludrigen Handschrift, die ich nicht erkannte. Ich machte einen raschen Rundgang durchs Zimmer. Es lag niemand unter dem Bett, der Balkon war leer. Janna . Ja, ja, das war ich. Dieser Umschlag brauchte nicht versteckt oder verbrannt zu werden, er war an mich gerichtet, ich durfte ihn beruhigt öffnen. Und genau dazu hatte ich keine Lust. In dem Brief, den er mir mitgegeben hatte, schrieb mein Vater, er sei froh, daß Egon ihn lesen würde, denn darauf würde ich schon achten. Er wußte nicht, daß alle seine Briefe gelesen worden waren. Sie waren grob aufgerissen und eingesogen worden, Egon hatte sie sogar beantwortet, doch die Antworten hatten meinen Vater nicht erreicht. Dazu hatte es an ein paar praktischen Handlungen gefehlt, dem Aufkleben von Briefmarken beispielsweise, dem Finden eines Briefkastens – Kleinigkeiten. Wichtiger war, daß er das Wort an meinen Vater gerichtet hatte, wenn auch außer Hörweite, und daß er sie für einen besseren Moment aufbewahrt hatte. Bis ich mich einschaltete. Daß ich jetzt selbst angesprochen wurde, beunruhigte mich, wie einen Strandräuber, der auf einen Schiffbrüchigen stößt, während er das Wrack plündert. Ich roch an dem Umschlag. Umschläge bleiben selten ungeöffnet, es kommt einer fast übermenschlichen Leistung gleich, sie geschlossen zu lassen, wenn man den Inhalt nicht kennt. Vor gesprochenen Worten laufen wir weg, doch geschriebene Worte sprechen wir in Gedanken aus, um erst dann zu dem Schluß zu kommen, daß wir sie eigentlich nicht hatten hören wollen. Mir wurde schlecht, als ich das dünne
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