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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht zu treffen, um nicht getroffen zu werden. Das wußte Fechtmeister Girard Thibault bereits im Jahr 1630.
     
    Ich mußte nicht weiterlesen. Die besserwisserische Haltung, die aus den Sätzen sprach, irritierte mich. War ichvielleicht als Argument nach Raeren geschickt worden? Hatte mein Vater mich dazu benutzt, wieder einmal recht zu bekommen, mit dieser seiner Entschiedenheit, der man nur dadurch begegnen konnte, daß man schweigend an einen Gott glaubte, wie meine Mutter es tat? Jetzt hatte ich keine Zeit mehr, ich würde später noch einmal herkommen und verstehen, wer recht hatte. Nur in den Poste-Restante-Umschlag warf ich noch einen Blick. Darin steckten fünf kleinere Briefe, die an meinen Vater adressiert waren. Zugeklebt, aber nicht abgeschickt. Eine überschwengliche Schrift. Auf dem untersten Umschlag klebte eine ungestempelte Briefmarke, das Bild einer Frau mit einem Löwen zu Füßen. Königreich der Niederlande, Internierungslager . Ich schob den Brief in den Saum meines Reifrocks und schloß die Schublade. Jetzt mußte ich dafür sorgen, daß ich nicht wieder in Ohnmacht fiel. Ich spürte es kommen. Es war angenehm, wenn mein Gesichtsfeld verschwamm, als würde ein roter Vorhang vor ein sonniges Fenster gezogen. Um bei Bewußtsein zu bleiben, mußte ich durch die Nase atmen, ruhig nach draußen starren, bis das Ohrensausen aufhörte und zuerst die Geräusche, danach die Bilder wieder durchbrachen. Aber ich bekam keine Luft. Jemand zog mein Korsett zu. Durch einen Schleier sah ich seine Hände, die meine Brüste aus dem weichen Stoff hochschoben. Weg war ich. Doch er küßte mich auf den Hals, auf die Schultern, imposant und zupackend, bis eine heiße Flut mich an die Küste zurückwarf. So hatte ich es mir immer vorgestellt. Genau so.

Teil II

Bergen, 12. August 1915
     
    Lieber Jacq,
     
    meine Geduld ist fast erschöpft.
    Ein Jahr ist vergangen, seit ich verwundet wurde. Wenn ich in den Spiegel schaue, empfinde ich kein Bedauern ob meines verwüsteten Gesichts, und auch wenn mein Bein wieder einmal in Flammen steht, berührt es mich kaum. Der Schmerz sitzt tiefer. Meine Haut hast Du so gut oder schlecht es ging zusammengeflickt, doch um diese Wunde zu desinfizieren, hättest du beherzter schneiden müssen. Jeden Tag schlägt die Erniedrigung mit geballten Fäusten drauflos, unter die Gürtellinie. Ich bin nicht ihr einziges Opfer, dieser verfluchte Ort ist voll von ihnen. Junge Männer, von der Front weggerissen, noch bevor der Krieg richtig begonnen hatte. Ihre Chance auf ein ehrenvolles Leben ist dahin, es sei denn, jemand macht dieser Vergeudung rasch ein Ende. Ansonsten gibt es hier noch die Deserteure, doch die haben es selbst so gewollt. Es ist eine Qual, zusammen mit ihnen hinter demselben Stacheldraht zu leben, auch wenn sie in einer eigenen Baracke untergebracht sind. Wenn ich meine Hände um die Kehle eines von ihnen schließen könnte, würde ich sie nicht mehr lösen, das schwöre ich, ich würde so fest zudrücken, bis ich sein Leben verrinnen spürte, bis das Entsetzen in seinen Augen in Ergebenheit überginge, weil er begreift, daß er mit diesem Blick begraben werden wird. Ihr Ärzte schließt die Lider, bevor der Rigor mortis eintritt. Doch was ist dahinter? Mit welchem Blickbegrüßen wir den Tod? Das ist von Mensch zu Mensch verschieden.
    Letzte Woche haben ein paar Deserteure Prügel bezogen. Ich war nicht dabei, ich arbeitete auf dem Feld. Sie liefen unseren Jungs in die Arme, als die von der Schwanzparade zurückkamen. Zu diesem Phänomen möchte ich etwas loswerden. Deine Kollegen sind Schweine. Mit Ausnahme der Offiziere hat wahrscheinlich keiner von uns Umgang mit einer Frau, und trotzdem müssen wir jede Woche mit heruntergelassener Hose antreten. Seit einem Monat überläßt der Arzt das einem alten Assistenten, einem kränklichen Greis. Wir ekeln uns alle vor ihm. Er hockt sich vor unsere edlen Teile und kommt mit wäßrigem Blick wieder hoch. Es ist fast die gleiche Erniedrigung wie unsere Entwaffnung. Mit diesen Deserteuren kam es also zu Tätlichkeiten. Es gab keine Toten, aber die Holländer bekamen die Situation kaum wieder in den Griff. Was für ein gleichmütiges Volk Ihr doch seid! Ihr benehmt Euch, als befänden wir uns auf einem Klassenausflug. Von allen Holländern schätze ich lediglich den Wachposten, der war in Niederländisch-Indien stationiert. Manchmal rauchen wir am Tor zusammen einen Zigarillo. Seine Aufgabe ist es, die neugierigen Dorfbewohner

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