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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dem Kopf. Das Symbol der Freiheit, papperlapapp: Diese Mütze war für König Midas, damit er seine Eselsohren verbergen konnte.
     
    Daß ich gegen Ende eines Weltkriegs geboren war, wurde mir klar, als ich in den zwanziger Jahren bei meiner Tante in Kerkrade zu Besuch war, wo die Landesgrenze dicht vor den Haustüren der Nieuwstraat verlief. Davon konnte man nichts sehen, aber in der Straßenmitte waren Löcher von der alten Trennlinie übriggeblieben. Ich trat einmal in so ein Loch, und meine Tante erzählte mir, daß dort früher ein Zaun gestanden hatte, daß die Niederländer zuschauen mußten, wie die Nachbarn von gegenüber hinter dem Maschendraht ihres Krieges verschwanden, daß sogar ihre Fenster zugenagelt wurden, damit sie nicht entwischen konnten, daß diese Zeiten jetzt aber vorbei waren. Trotzdem ging es der einen Hälfte nach wie vor schlechter als der anderen. Die deutschen Geschäfte waren leer. Ich fragte, warum die Pruse nicht alle zu uns ziehen würden, und meine Tante sagte: Dann wird es hier genauso schlecht wie drüben. Der Mangel auf der anderen Seite führte zu eifrigem Geschacher. An manchen Tagen wimmelte es nur so von Menschen. Aus allen Ecken des niederländischen Hinterlands kamen die Glückssucher, Bauernschreihälse mit Handkarren und eingebildete Leute aus dem Westen, die Tabakläden aufmachten, während auf der anderen Seite die Pruse von weither mit ihren leeren Bollerwagen herbeiströmten. Schließlich wurde die Nieuwstraat durch das Ausbleiben jeglicher Regeln eine große Geschäftsstraße. Binnen dreier Monate jedoch sollte sich alles wieder verlaufen. Als die Reichsmark weiter an Wert verlor, zogen mit den Kunden auch die fliegenden Händler weiter nach Osten, um Profit aus dem Durcheinander zu schlagen. Nicht so meine Tante. Sie blieb in ihrer Bude, verkaufte Kaffeebohnen, Butter, Tuitknak-Zigarren pro Stück und kleine Flaschen Bols an Zurückgebliebene ohne Schwung. Ob die sich fühlten wie Egon im Lager, umringt von Gaffern, die jeden Moment auf dem Absatz kehrtmachen konnten, um ihr bürgerliches Leben fortzusetzen, während er in diesem eingezäunten Stück Krieg festsaß? Egon war der Meinung, mein Vater sei genauso ein Topfgucker gewesen, weil er ihn beobachtet hatte, während er nicht bei Bewußtsein war. Schwanzparade. Ich konnte mir vorstellen, was das bedeutete. Dieser graue Sanitäter hatte mehr gesehen als ich, denn als wir nebeneinanderlagen, trug Egon von Bötticher schon wieder eine allesverhüllende lange Unterhose.
     
    Ich leckte an der Gummierung der Umschlagklappe, es war noch genug von ihr übrig, um das Kuvert wieder zu verschließen. Zweimaliges Lesen hatte nicht gereicht, um alles zu verstehen. Mein Vater hatte Egon gepflegt, als dieser verwundet worden war. Der mochte das zwar für unsinnig gehalten haben, aber das rechtfertigte nicht eine derartige Wut. Er hatte gesagt, daß mein Vater sich an die Patienten herangeschlichen habe, wenn diese schliefen, daß er ihr Ehrgefühl mit Nadel und Faden habe verschwinden lassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der junge Jacq über die Macht verfügt hatte, Egon in einem Internierungslager einsperren zu lassen, aber selbst wenn? Hätte von Bötticher lieber enden wollen wie der belgische Bettler auf dem Markt, als Rumpf in einem Wägelchen, zu Boden gezogen von Orden? Hier war eine Schuld zu begleichen, das stand fest. Vielleicht konnte Leni zur Klärung beitragen, immerhin hatte sie gewußt, daß ihm damals ein Pferd abhanden gekommen war, ein Tier, das er liebte, seine einzige Chance auf Genesung. Wer aber war Julia?
    Ich griff nach meinem Florett und suchte in dem dunklen Zimmer nach einer Trefffläche. Fechten sorgt für Klarheit. Es gibt keinen Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit einer Entscheidung, wenn die Waffenspitze auf der Trefffläche steht, auch wenn diese Entscheidung erst irgendwo unterwegs getroffen wird, so wie ein Regenschauer den Spaziergänger zum Einschlagen eines anderen Wegs veranlassen kann. Ich suchte mir eine Stelle aus, die mich irritierte, die Stelle, an der zwei Tapetenbahnen schief aufeinanderstießen. Julia. Allein schon ihren Namen wollte ich in Fetzen schlagen. Satisfaktion, ein Begriff, der Egon von Bötticher zufolge Niederländern fremd sei – von wegen. Ich schätzte die Entfernung und machte einen Ausfall, die Waffe prallte ab. Falsche Handhaltung. Immer mit der Ruhe, würde mein Vater sagen. Plötzlich sah ich ihn vor mir. Seine Feder über einem Stapel Briefbögen

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