Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
Nadelwälder höchstens eine vereinzelte Birke dulden. Hast du schon mal die älteste Eiche Deutschlands gesehen? Die Rabenseiche, sie steht nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt. Ihr Stamm ist so hohl und so breit, daß Friedrich Wilhelm IV. bei einem Manöver sechsunddreißig Infanteristen darin unterbringen konnte. Mitsamt Ausrüstung.«
    Wir gingen zusammen zurück, den Fußweg entlang, langsam, die Wärme der verstreut einfallenden Nachmittagssonne genießend. Zwischen uns baute sich eine fast hörbare Spannung auf. Vielleicht gab es Insekten, die die Vibrationen der Luft zwischen unseren Händen wahrnahmen. Wir berührten einander nicht. Ich wagte nicht aufzublicken, hielt den Atem an, als trüge ich eine bis zum Rand gefüllte Schale.
    »Normalerweise bin ich hier allein mit Megaira«, sagte er schließlich, sich räuspernd. »Schau, das sind ihre Hufabdrücke. Hier kommen keine anderen Reiter her. Es kommen sowieso nur wenig Menschen. Ich begegne selten jemandem.«
    »Das klingt sehr einsam.«
    »In der Natur ist ein Mensch nie einsam«, sagte er streng. »Hier gibt es so viele solitäre Tiere, einzeln stehende Bäume, Bäche, die nirgends enden. Das ist einfach so, niemand findet das tragisch. Wohingegen ein Mensch in der Stadt verpflichtet ist, andere zu treffen, weil er sonst als einsam gilt.«
    Wir sagten nichts mehr. Ratlos blickte ich auf meine dahintrottenden Füße, während ich nach Worten suchte, die uns wieder näher zueinander bringen sollten, aber mir fiel nichts ein. Bis wir zu einem Maisfeld kamen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Bei uns wurde damals noch kein Mais angebaut. Wahrscheinlich war es Futtermais, fürs Vieh. Dennoch sahen die schweren Kolben wie Kostbarkeiten aus, wie sie da auf ihren Stengeln standen; jeder einzeln verpackt in ein Futteral aus Blättern. Ich suchte mir ein großes Exemplar aus und schälte es. Das haarigeNetz streifte ich zu einem Bausch am Schaft herunter. So, in seiner glänzenden, kerzengeraden Pracht, präsentierte ich von Bötticher den Kolben. Erkannte er da, daß ich, achtzehn Jahre alt, wirklich keinen blassen Schimmer hatte? Er nahm mir das Ding mit einiger Verlegenheit ab. Als wir zum Tor von Raeren kamen, hielt er es immer noch in der Hand.
    »Herr von Bötticher?«
    Er drehte sich um.
    »Was hat mein Vater eigentlich … Jacq, hat Jacq dir weh getan?«
    Er starrte auf den Kolben. Die meisten Trophäen aus der Natur verlieren ihren Wert, sobald man sie nach Hause mitnimmt. So bewahrt man zum Beispiel aus Mitleid die Muscheln, die man am Strand gefunden hat, wo sie um so vieles schöner waren, um der eigenen Gutgläubigkeit willen, mit der man dachte, die Schönheit mitnehmen zu können. Er warf den Kolben über seine Schulter.
    »Weh getan? Davon will dein Vater nichts wissen«, sagte er, während er davoneilte. »Er arbeitet nur mit Betäubung. Er schleicht sich an seine Patienten an, wenn sie schlafen, und falls sie nicht schlafen, sorgt er schon dafür. Liegen sie erst einmal in Morpheus’ Armen, beginnt der große Verschwindenstrick. Leid wird geheilt, Genugtuung zugeschmiert, Ehrgefühl zugenäht. Was übrigbleibt, ist ein ordentlicher Strich, der zusammen mit der Erinnerung blasser werden soll. Aber leider lassen sich Erinnerungen nicht zunähen. Sie tauchen auf, wie es ihnen paßt.«
    »Aber warum bin ich dann hier?« schrie ich ihm nach. »Warum haben Sie mich hierherkommen lassen?«
    Ich erhielt keine Antwort. Zwei maskierte Idioten kamen aus dem Haus gestürmt, mit Säbeln fuchtelnd undein Kauderwelsch brüllend, das Französisch sein sollte. Von Bötticher stand wie angewurzelt da, er war es nicht gewohnt, daß man ihm in den Weg trat. Leni stand kopfschüttelnd in der offenen Tür, sie habe die Zwillinge nicht davon abhalten können, die Truhe mit den Kostümen zu durchwühlen. Sie hätten über den ganzen Flur verstreut gelegen, klagte sie, es habe sie eine halbe Stunde gekostet, alles wieder ordentlich zusammenzufalten und zurückzulegen, vielleicht müßten sie in Zukunft doch besser einen Teil des Hauses abschließen, vor diesen Rotzbengeln sei ja nichts sicher.
    »Die Kostüme sind dazu gemacht, um darin zu spielen«, murmelte von Bötticher. »Wir geben ja doch keine Maskenbälle mehr auf Raeren. Ich muß etwas trinken, Leni. Ein Glas Kognak.«
    Friedrich schob als erster seine Maske hoch. Er zupfte an den Troddeln seines Morgenrocks, den er in Ermangelung eines Umhangs angezogen hatte. Er stand ihm gut, der

Weitere Kostenlose Bücher