Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
PROLOG
DIE ZEIT DER WÖLFE
Über dem Drakenskal-Pass braute sich ein Unwetter zusammen. Dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel über dem östlichen Horizont auf, gewaltige schiefergraue Massive, die von schwefelgelben Dunstfeldern durchzogen waren. Immer wieder erhellte Wetterleuchten weite Bereiche der Gewitterfront, und ferner Donner rollte über die karge Landschaft. Dies alles vollzog sich in einer so unheimlichen Geschwindigkeit, dass selbst ein in Wetterkunde Ungeübter erkannt hätte, dass die Dunkelheit, die von Osten her näher rückte, nicht auf natürlichem Wege entstanden sein konnte.
Anreon beobachtete voll Sorge das sich ihm bietende Schauspiel. In einen schweren dunkelblauen Mantel gehüllt, stand der Ordensritter auf einer flachen Anhöhe am westlichen Zugang des Passes, und obschon zahllose andere Pflichten seiner Aufmerksamkeit bedurften, vermochte er sich von dem Anblick der ebenso schrecklichen wie schönen Urgewalten nicht loszureißen.
Zu seinen Füßen erstreckte sich der annähernd kreisrunde Talkessel des Drakenskal. Felsig, baumlos und überhaupt dem Anschein nach bar jeden Lebens lag die Landschaft im Zwielicht da. Zur Linken und zur Rechten ragten die hohen Gipfel der Zwölf Zinnen auf, einer Gebirgskette, die ihren Namen den zwölf Bergen verdankte, die sich trutzig wie die Zinnen einer Wehrmauer erhoben und Endars Kernlande von Norden nach Süden teilten. Mit seinen sanft ansteigenden Rändern, die einst harte Abbruchkanten gewesen sein mochten, bevor das jahrtausendelange Einwirken von Wind und Wetter sie abgeschliffen hatte, erinnerte der Drakenskal aus der Nähe betrachtet an einen gewaltigen Krater. Von ferne aber wirkte er beinahe wie ein Loch in einer titanischen Zahnreihe, so als habe die riesige Hand eines zornigen Gottes die dreizehnte Zinne, die hier einst gen Himmel gestrebt war, mit brutaler Gewalt herausgerissen.
Gemeinsam mit dem Unwetter war ein schneidender Wind aufgekommen, der sich seinen Weg durch Stoff und Rüstzeug suchte und dem Ritter mit kalten Fingern über den Leib strich. Anreon lief ein Schauer über den Rücken, und er zog den Wollmantel, auf dessen Rückseite das silberne Wappen der Kristalldrachen prangte, enger um sich. Er wusste jedoch, dass dies nur eine leere Geste war, denn die Kälte, die er verspürte, hatte nichts mit dem eisigen Atem des Ostwinds zu tun, der seine von zahlreichen Schlachten gezeichnete Plattenrüstung auskühlte. Die wahre Kälte kam von innen. Wie eine Schicht glitzernden Raureifs, die meine Eingeweide überzieht …
Denn Anreon gab sich keinen Illusionen darüber hin, was die dunklen Wolken zu bedeuten hatten, die über der atemberaubenden Gebirgskulisse dräuten. Das Unwetter war ebenso wenig dem Zufall geschuldet wie seine eigene Anwesenheit hier oben auf dem Drakenskal-Pass.
Hier und heute wurde die entscheidende Schlacht geschlagen. Hier und heute würde sich zeigen, ob die Menschen und Alben oder aber die Wölfe aus At Arthanoc und ihr finsterer Herr und Gebieter in diesem unseligen Krieg triumphieren würden. Auf Tausende tapfere Frauen und Männer wartete in dieser Nacht der Tod. Und ihr brechender Blick würde sich auf der Suche nach einem tröstenden Stern vergeblich gen Himmel heben, denn die schwarze Magie des Hexenmeisters Calvas überzog das Land mit Finsternis. Und ob wir glorreich den Sieg davontragen oder eine vernichtende Niederlage erleiden, liegt ganz allein in meiner Hand …
Die Bürde dieser Gewissheit lastete schwer auf seinen Schultern, die zwar kräftig sein mochten und von silbernem Metall umschlossen, aber letztlich doch nur einem Menschen gehörten.
»Herr?«
Blinzelnd, als erwache er aus einem Traum, riss Anreon den Blick von den Gewitterwolken los und wandte sich dem Krieger zu, der die Anhöhe erklommen hatte und neben ihn getreten war. Es handelte sich um einen jungen Mann, der zwar hochgewachsen, doch von schlanker Gestalt war und ein schmales Gesicht besaß. Hätte er nicht den blau-weißen Waffenrock eines Knappen der Kristalldrachen getragen, so wäre vermutlich kaum jemand in Versuchung geraten, ihn für einen Krieger zu halten. Und doch hatte er in den wenigen Jahren seines Dienstes für den Orden bereits mehr Kampferfahrung gesammelt als viele Männer am Ende eines ganzen Lebens.
»Wilfert.«
»Der Großmeister schickt mich. Hochkönig Jeorhel und er erwarten Euch.«
Anreon nickte. »Ich komme.« Er warf einen letzten prüfenden Blick zum Himmel hinauf, dann wandte er sich
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