Die niederländische Jungfrau - Roman
auf seinem Schreibtisch, auf Worte wartend, die seinen Freund von seinen guten Absichten überzeugen würden. Du brauchst nicht zu treffen, um nicht getroffen zu werden . Für gewöhnlich drückte sich mein Vater klar aus, in seinen mit logischen Schlußfolgerungen gefüllten Heften war kein Raum für Wischiwaschi. Gern hätte ich mir weisgemacht, daß Egon und ich keine Worte brauchten, weil wir die Leidenschaft teilten, und Leidenschaft mit Gesten auskam. Doch als er schweigend neben mir im Bett gelegen hatte, war mir kalt geworden. Sein Gesicht war erstarrt zu einem Porträt aus lang vergangener Zeit, wie das des jungen Mannes in dem Fotorahmen.
Der erste Tote in meinem Leben: drei Jahre zuvor. Der Bus von Maastricht nach Kerkrade. Mein Vater neben mir, die Hände um die Stahlecken meines Koffers, nickt zur trostlosen Aussicht, sagt: »Grenzstädte, wozu sind die gut? Anscheinend sind dort alle ständig in Eile, macht niemand sich die Mühe, zu bleiben. Vaals, Eijsden, Kerkrade, provisorische Siedlungen an Durchgangsstraßen. Das Land drum herum war immer ein Schlachtfeld, die Erde vom vergossenen Blut fruchtbar.« In dem Moment trat der Fahrer auf die Bremse. Ich flog nach vorn, spürte einen Stich an der Schläfe, die Frau vor mir verlor ihren Hut, mein Vater den Koffer, danach war es still. Wir hatten etwas gerammt. In der Minute, die zu einer lebenslangen Erinnerung ausgesponnen werden sollte, sprach niemand ein Wort. Kein Schreien oder Rufen wie in Filmen, sondern eine Abwesenheit menschlichen Lebens, weil klar war, daß draußen, in Höhe der Motorhaube, das eines anderen geendet hatte. Mein Vater stand gleichzeitig mit dem Fahrer auf. Ich sah das Opfer ein kleines Stück vor den Rädern liegen, ein etwas beleibter Mann in einem teuren Freizeitanzug, Spazierstock noch in Reichweite. Ich stellte mir vor, daß er am Morgen seine Garderobe begutachtet und nach kurzer Überlegung beschlossen hatte, dieser Anzug würde sich gut über seinem gewaschenen Leib machen. Jetzt lag er da.
Egon hatte unrecht. Mein Vater war kein gleichmütiger Niederländer. Die Ruhe, mit der er sich neben dem still gewordenen Brustkorb wieder aufgerichtet hatte, war die Ohnmacht eines Arztes zwischen den Kriegen, zwischen altertümlichen Reanimationsmethoden einerseits (heiße Asche, Peitschenschläge) und der Mund-zu-Mund-Beatmung andererseits, die damals noch nicht angewendet wurde. Aus seinem Gesicht sprach zumindest professionelle Irritation. Während die Fahrgäste schon am Abend wieder die Hände von ihren Mündern nehmen würden, um mit schauderndem Grinsen von dem Spektakel zu erzählen, würde mein Vater, die Feder über einem Stapel Papierbögen, noch bis spät in die Nacht in seinem Zimmer grübeln.
Manchmal kippt eine Fechtpartie. Dann entpuppt sich der anfängliche Held als Hitzkopf, der seinen Vorsprung verspielt, weil er übermütig geworden ist. Auf einmal geht es abwärts mit ihm. Das Publikum sieht zu, wie er einenGegentreffer nach dem anderen durchgehen läßt, wie er vergeblich dem Schiedsrichter mit dem Finger winkt, wie seine Paraden gröber werden. Er tritt und stampft, und wenn er zum Schluß seine Maske abwirft, sieht jeder, wie seine Kiefer zittern, während er dem anderen, der kaum geschwitzt hat, beim Grüßen die Hand zerquetscht. Ich starrte auf die Tapete. So, da, Treffer. Und noch mal, Treffer. Die Nacht verschwand, der Morgen kam. Ich hatte nicht geschlafen, und auch die Tauben waren wach geblieben und die Kuh im Tal, die eine halbe Stunde lang ununterbrochen gerufen hatte, atemlos, lauthals, verzweifelt, weil sie die Herde verloren hatte. Ein Tier, das hingebungsvoll um Hilfe bittet, ohne Scham zugibt, einen Fehler gemacht zu haben, das nie etwas ausheckt, während es den anderen ansieht.
2
Fechter verbindet eine Haßliebe mit ihrer Maske. Sie schützt ihre Augen, behindert jedoch die Sicht. Sie verbirgt ihre Unsicherheit, aber auch diesen anderen Blick, der zu töten vermag. Jeder Fechter hat schon einmal, in der letzten Sekunde eines Angriffs, ein höhnisches Lächeln im feinen Drahtgeflecht ihm gegenüber entdeckt und gespürt, wie sein Griff erlahmte. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, doch auf Lenis Gesicht lag plötzlich ein solches Lächeln. Sie war mit der Wäsche erschienen und sah ganz sicher den Brief auf der Fensterbank. Ihr Blick verriet mir, würde sie den Mund öffnen, kämen Worte heraus, die mein Abenteuer zermalmten. Sie würde ein Urteil fällen, wie man morgens ein
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