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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wart Eurer Sache schon sehr sicher.
     
    Die Briefe meines Vaters waren blind, tastend geschrieben, er wußte nicht, ob sie gelesen würden. Vielleicht zeigte er deswegen so wenig Gefühl. Aber auch als er zugab, keine Gewißheiten mehr zu haben, sondern Angst, daß seine Wissenschaft nicht die richtige sei, erhielt er keine Antwort. Egon hatte alles gelesen, auch von der Ernüchterung nach dem Austausch der Kriegsgefangenen, denn dieser Brief steckte zerknittert im aufgerissenen Umschlag. Was dachte er, als er von dem britischen Soldaten ohne Gesicht las?
     
    … sein gesamter Unterkiefer bis hinauf zum lateralen Teil der Maxilla und des Palatums war weggeschossen. Der Feldarzt hatte versucht, den Defekt mit der verbliebenen Haut zu schließen, die Wunde war trocken, aber das Gewebe fing bereits an zu wuchern. Wenn er älter gewesen wäre, hätteer weniger Probleme mit Hypergranulation gehabt, aber ich schätzte ihn auf höchstens zwanzig. Interessant: Das Alter lesen wir doch vor allem an den Augen ab. Sein Blick war noch immer der eines Jungen, wahrscheinlich ein Bauernsohn, den es direkt vom Acker in den Krieg verschlagen hatte. Bestimmt noch unberührt. Welche Frau würde ihn jetzt noch küssen wollen? Er hat keine Lippen mehr, die er spitzen, mit denen er lächeln, flüstern könnte. Für den Rest seines Lebens kann er nur noch erschrocken vor sich hin starren. Du hast so große Angst vor einem Gesichtsverlust, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können.
     
    Eines Nachts sagte Egon: »Findest du mich abstoßend?«
    Ich setzte mich auf ihn und berührte mit der Zunge die fransige Spur, die von seinem Augenwinkel abwärts lief. Sie paßte genau. Er erschauerte kurz, die dünne Haut war empfindlich, wandte dann abrupt sein Gesicht ab. Kriegswunden dürfen nicht geleckt werden. Trotzdem hatte es ihn erregt. Ich stieg von seinem Schoß und ließ ihn so zurück. Ich wollte kein Mitleid mit ihm bekommen, solche Gefühle halten nicht. Der verstümmelte Soldat, wie es ihm mittlerweile wohl erging? Kurz nach dem Krieg hatte vielleicht noch ein Mädchen auf ihn gewartet, das die Tränen von seinen Wimpern leckte und immer wieder laut verkündete, er sei ein Held, doch inzwischen, zwanzig Jahre später, war sie wohl auf und davon, in die Flucht geschlagen von seiner Sprachlosigkeit.
    »Vielleicht sollte ich mal mit dem Degen fechten«, sagte ich, während ich Egon die Butter reichte. Ich sah ihn herausfordernd an, ich wußte, er würde protestieren.
    »Degen? So ein Unsinn, diese große Waffe alter Männer, du mußt im Gegenteil deine Schnelligkeit nutzen.«
    »Beim Degen muß ich wenigstens nicht mehr an dieses blöde Angriffsrecht denken.«
    »Das Angriffsrecht ist nicht blöd«, sagte er. »Zwei Tote in einem Duell, das ist blöd. Gönn dem anderen das Angriffsrecht, sein Leben, der Tod hat an einem genug – das begreift sogar ein Sterbender. Wenn Kriege nach den Regeln gespielt werden, kann jeder sich mit dem Ausgang abfinden.«
    Er rüttelte den Bräter über dem Feuer und schwieg, während die Butter schmolz. Ganz kurz sah ich, wie alt er war, wie zusammengesunken er vor dem Herd stand, der zu niedrig war für ihn. Kein Held, kein Revolutionär, sondern ein reicher, tauber Mann, wie Heinz gesagt hatte. Ich wollte das nicht sehen. Ich wußte, solange er die Vorhänge geschlossen ließ, würde ich in sein Bett zurückkommen.

5
    Wer den Otter essen sah, bekam selbst Appetit. Vor jedem Bissen drehte er seinen Teller, im Zweifel, ob er einen glänzenden Brocken von dem Hirschpfeffer auf seine Gabel spießen sollte oder einen geschmorten Apfel, danach sah er sich kauend im Fechtsaal um. Ich saß neben ihm und hörte ihn grunzen.
    »Die besten Jäger rühren selbst in den Töpfen. Himmlisch.«
    Mit Kerzen in lediglich einem Kronleuchter war das Licht im Saal gedämpft, wie auch die Stimmen der beiden Studenten, die sich nicht zu Tisch gesetzt hatten, sondern in einer dunklen Ecke nur dem Alkohol zusprachen. Dieser erste Sonnabend im Oktober war der Mensur vorbehalten. Durch das Fenster sah ich unter der Gartenlaterne den Herbst toben, der Sommer war zu abgebrochenen Zweigen, Blattschnipseln, Splitt, Staub zerbröselt, der noch einmal kurz auflebte. Wenn der Wind sich legte, würde es auf Raeren bestimmt totenstill werden. Jetzt wieherten die Pferde noch gegen die Naturgewalt an, und eine Spinne vor dem Fenster versuchte, sich in ihrem zitternden Netz zu halten. Vielleicht war es an der Zeit, in die Stadt

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