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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Luft mehr. Im Spiegel sah ich, wie ein Zirkusbär und ein kleiner Clown sich einbildeten zu tanzen. Jemand zog die Vorhänge zu, um die untergehende Sonne auszusperren, jetzt waren wir auf uns selbst gestellt. Ich murmelte, ich müsse etwas essen, er legte den Arm um mich, so fest, daß der Stahlknopf seiner Brusttasche an meinen Wangenknochen scheuerte.
    »Dann kümmern wir uns jetzt darum. Leo, kannst du nicht mal andere Musik suchen? Diese Lieder kennen wir schon. Das Mädchen verrät uns bestimmt, wo der Hausherr seine Sammlung aufbewahrt.«
    Ich wollte gerade erwidern, daß er kein Musikliebhaber sei, da erklärte Friedrich zu meinem Erstaunen, von Bötticher besitze genug Platten. Besser noch, er würde sie mal kurz zeigen, sie lägen in seinem Zimmer, zu dem habe Heinz die Schlüssel, aber da der jetzt betrunken sei, sei das kein Problem. In dem Moment hätte ich einschreiten müssen. Ich hätte ihnen zuvorkommen müssen, die Schlüssel verstecken, Friedrich von seinem Plan abbringen. Von Böttichers Zimmer, das war mein Schlupfwinkel, dieses Nest mit der roten Samtdecke war meine erste Heimstatt! Aber ich tat nichts. Ich spielte die gekränkte Ballerina in den Armen eines sogenannten richtigen Mannes, eines Bären von Nazi, der mir Wurststücke abschnitt und Schnaps eingoß, ohne mich loszulassen, weil ich sonst – glaubte ich das selbst? – in Ohnmacht fallen würde. Wenn man älter wird, blickt man gerührt auf solch jugendliche Gekränktheit zurück, doch damals empfand ich keinen Funken Sympathie für mich. Deshalb trank ich ein Glas nach dem anderen.
    »Gruselig ist und bleibt es«, sagte der Große, als Friedrich zur Tür hinaus war. »Die Hälfte von einem zu sein, das scheint mir schrecklich. Wenn ein Mensch nie einzigartig ist, kann er sich nie ganz hingeben. Ich würde doch ernsthaft an der Loyalität eines halben Zwillings zweifeln. Würdest du so einen heiraten? Ich nicht. Das komplette Gespann, das ist was anderes, aber dazu müßte erst die Polygamie gesetzlich geregelt werden. Gar keine so schlechte Idee, schließlich muß die Bevölkerung wachsen.«
    »Nach dem Dreißigjährigen Krieg hat man das gemacht«, mischte sich ein Student ein. Er hatte sehr dünnes Haar für sein Alter und ein merkwürdiges Gesicht, das ich schon mal gesehen hatte. Er stellte sein Glas vor meines und goß beide mit dem Rest der Flasche voll. »Man hat eserlaubt, weil es nicht genug Männer gab. Dank der außerehelichen Kinder ist die Nation damals wieder gewachsen. Auch heute noch kämpfen wir mit einem Männermangel, noch vom Krieg her. Die Partei verurteilt alleinstehende Mütter nicht, nur, daß guter Samen vergeudet wird. Das ist eine demographische Sünde.«
    Der Große lachte sein dröhnendes Lachen und öffnete eine neue Flasche. Ich schätzte seine Handgelenke – zehn Zentimeter, mindestens, an diesem Koloß hatte ich vorläufig genug. Ich würde noch ein Stündchen tanzen, dann würde ich die Treppe zu meinem Taubenschlag hinaufsteigen, allein, wohlgemerkt. Weg mit euch, ihr häßlichen Kerle, ach was, verreckt doch.
    Sagte ich das laut? Ich war betrunken.
    »Willy liebt Theorien«, sagte der Große.
    »Aber keine Ärzte und ihre Nachkommen«, entgegnete der Kahle.
    Daraufhin zog der Große mit seinem kleinen Finger das Medaillon der Heiligen Jungfrau aus meinem Ausschnitt. Eine unbegreifliche Geste, ich machte mir nichts aus dem Ding. »Katholisch, Willy«, sagte er grinsend.
    Und dann ging es los. Leo trat die Tür mit dem Fuß auf, weil er die Arme voll hatte mit viel mehr Sachen als nur dem Plattenkoffer. Er hatte Bücher mitgebracht und diversen Krimskrams, den er mit ernster Miene auf dem Tisch zur Schau stellte. Friedrich hatte eine große Flasche roten Ahrwein gefunden, den er den Studenten anbieten wollte, doch die interessierten sich nicht dafür, sie versammelten sich um die Corpora delicti auf dem Tisch. Ich erkannte das Gemälde mit dem Pferdekopf und Egons Uniformjacke. Die kleine dorische Säule und die sich selbst verschlingende Schlange hatte ich vorher noch nie gesehen. DieStimmung schlug um, als Willy die Grammophonplatten durch den Saal zu schleudern begann. Eine flog in ein Gemälde, eine andere blieb im Kronleuchter hängen, aber niemand lachte darüber, es wurde nur noch gegrölt. Verbotene Musik, amerikanisch-jüdisches Dreckzeug, da, Billy Murray, hab ich dir doch gesagt, Irving Kaufman, tsss, Louis Armstrong wohlgemerkt. Friedrich sah sich verstohlen um und nahm dann einen

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