Die Nomadengott-Saga 03 - Die Weltenbaumler
Byblos gesehen, doch nicht so groß, nicht so beeindruckend, nicht so prächtig. Und vor allem waren diese Schiffe niemals mit geblähtem Segel gegen den Wind gefahren. Irritiert sah der Schreiber zum Segel der Gublas Stolz. Auch dieses hatte guten Wind, doch eindeutig aus der entgegengesetzten Richtung. Das konnte nicht sein! Von zwei Schiffen, die keine Viertelmeile voneinander entfernt waren, konnte nicht eines mit Westwind und das andere mit Ostwind segeln, selbst wenn der Windgott Aiolos persönlich seine stürmischen Hände im Spiel hätte.
Seshmosis versuchte, die Menschen an Bord des seltsamen Schiffes zu erkennen, doch sie waren zu weit entfernt. Auf jeden Fall schienen sie hoch gewachsen zu sein und blinkende Rüstungen zu tragen. Nicht unbedingt Leute, denen man begegnen wollte. Doch das fremde Boot nahm keine Notiz von ihnen und machte keine Anstalten, den Kurs zu ändern. Mit großer Geschwindigkeit fuhr das Drachenschiff an der Gublas Stolz vorbei. Seshmosis war erleichtert. Und er wäre noch erleichterter gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie gerade dem Schiff Skidbladnir des Gottes Freyr begegnet waren, der mit einigen seiner göttlichen Kollegen einen Bootsausflug machte.
Kurz nachdem das merkwürdige Schiff verschwunden war, rief der Ausguck: »Land in Sicht! Gen Sonnenuntergang Land in Sicht!«
Seshmosis erkannte einen Fleck am Horizont, der schnell größer wurde und sich beim Näherkommen als felsige Küste entpuppte, die von schneebedeckten Bergen und rauchenden Vulkanen überragt wurde.
»Scheint eine ziemlich unwirtliche Gegend zu sein«, sagte er zu Nostr'tut-Amus, und Seshmosis erschrak, als er sah, dass sein Atem bei diesen Worten eine deutlich sichtbare weiße Wolke bildete. Mit klappernden Zähnen gingen sie unter Deck, um sich ihre Wollmäntel überzuziehen.
*
Am Fuß der Weltenesche Yggdrasil liefen drei Frauen aufgeregt hin und her. Es waren die Schicksalsfrauen, auch Nornen genannt, die völlig aus dem Häuschen waren. Dabei herrschten seit Urzeiten Friede und Harmonie unter ihnen: Urd, die Älteste, war für die Vergangenheit zuständig, ihr Name bedeutete das Gewordene. Ihre Schwester Verdandi, das Werdende, kümmerte sich um das Tagesgeschäft der Gegenwart, und die jüngste der drei, Skuld, das Werdensollende, beschäftigte sich mit allen zukünftigen Angelegenheiten. So ging das schon seit Äonen, aber jetzt war nichts mehr, wie es sein sollte. Eine ganze Gruppe von Zeitreisenden stellte die alte Ordnung auf den Kopf und ließ alles aus dem Ruder laufen.
»Ein Gewordener will einen Werdensollenden treffen, der ein Werdender ist!«, jammerte Urd.
»Und zwei Ewige reisen mit den Werdenden, die eigentlich Gewordene sind!«, stöhnte Verdandi.
»Schlimmer noch! Die Lose sind gefallen, alle Werdensollenden sind jetzt Werdende!«, heulte Skuld.
Ratatöskr war nicht weit von den Schwestern entfernt mit seiner Morgentoilette beschäftigt. Er spiegelte sich in der Wasseroberfläche des Mimirsbrunnen und zwirbelte sorgfältig seine Ohrhaarbüschel.
»Was bin ich doch für eine prächtige Erscheinung«, flüsterte er seinem Spiegelbild zu. Dann entblößte er seine Nagezähne und reinigte sie mit einem Stöckchen. Der Eichkater war es gewohnt, dass die Schicksalsfrauen vor sich hin raunten, das gehörte zu ihrem geheimnistuerischen Auftreten. Doch heute waren ihre Sprüche viel lauter, viel hektischer und klangen irgendwie verzweifelt. Oder hysterisch. Nach den Ereignissen der letzten Tage rund um den Weltenbaum befürchtete Ratatöskr weitere Schwierigkeiten und sprang schnell zu den Nornen hinüber. Er war beunruhigt und vor allem unendlich neugierig.
»Ich grüße euch, ihr düster Raunenden!«, rief das Eichhörnchen und setzte sich auf einen Stein. »Was beunruhigt euch denn so an diesem herrlichen sonnigen Tag?«
»Die Vergangenen sind auf die Insel gekommen und wollen die Zukünftigen treffen. Die Gegenwärtigen werden vergehen, wenn die Künftigen nicht handeln. Wir sind auf einem unheilvollen Weg!«, lamentierten die drei Schwestern im Chor.
Ratatöskr stutzte. Dann dachte er über die Worte nach. Und dachte noch einmal über die Worte nach. Schließlich meinte er: »Ich habe keine Ahnung, was ihr mir sagen wollt.«
*
Aus den verborgenen Schriften der Skaldenschule von Oddi
Wenn man sich die Überlieferungen und Mythen der Völker auf der ganzen Welt ansieht, kann man erstaunliche Übereinstimmungen feststellen. Diese liegen nicht etwa
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