Die Nordischen Sagen
dazu bei, dass Odin ihn besonders schätzte und bei jeder Gelegenheit lobte.
Nur Heimdall, der Schutzgott Asgards, misstraute Lokis Charme. Unablässig warnte er die anderen Götter vor dem anmutigen Feuergott, und Loki musste erst eine wahre Heldentat vollbringen, ehe Heimdall verstummte.
Loki
T hor, Odins ältester Sohn, war verheiratet mit Sif, der Göttin aller Pflanzen. Sif war eine auffallende Erscheinung, groß gewachsen und von eleganter Gestalt. Ihre Haut war schneeweiß, und ihr Haar glänzte so reich und golden wie ein Ährenfeld im Sommer. Besonders wegen dieses prachtvollen Haars war Sif in allen Welten bekannt und wurde überall bewundert.
Thor war sehr stolz auf seine schöne Frau und rühmte sie bei jeder Gelegenheit. Immer wieder brachte er ihr von seinen Kriegszügen wunderbare Geschmeide, Kleider und Haarschmuck mit.
Eines Nachts aber passierte etwas Schreckliches. Es war schon spät, und ganz Asgard lag in tiefem Schlaf, als sich eine kleine Gestalt in einem Kapuzenmantel in Thors Palast Bilskirnir schlich. Thor selbst war nicht zu Hause, er jagte Trolle im südlichen Jötunheim. Lautlos wie ein Schatten glitt die Kapuzengestalt in Sifs Schlafgemach. Da lag sie, und ihr Haar schimmerte im Mondlicht wie flüssiges Silber. Das Geschöpf holte ein scharfes Messer hervor und schnitt Sifs Haar so geschicktdirekt von der Kopfhaut ab, dass sie nicht erwachte. Schwer fiel der Zopf herab und zerfloss auf dem Boden wie ein glänzendes Tuch. Boshaft trat die Gestalt noch einmal auf Sifs abgeschnittenes Haar, betrachtete die geschorene Göttin und verschwand dann, wie sie gekommen war.
Der Schrei am nächsten Morgen war so schrecklich, so jammervoll und verzweifelt, dass beinahe ganz Asgard zusammenlief und sich vor Thors Palast versammelte. Sosehr die Götter sich auch bemühten, nichts konnte Sifs Verlust ungeschehen machen. Kein Schönheitstrank, keine Beschwörungsformel und auch kein Verwandlungszauber. Sif blieb kahl. Sofort schickte Odin einen seiner beiden Raben zu Thor nach Jötunheim und forschte dann nach dem Schuldigen.
Nichts. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört, nicht einmal Heimdall. Es gab keine Spuren. Noch während die Götter berieten, verdunkelte sich der Himmel und Gewitterwolken zogen auf. Aus der Ferne rollte ein Donnern heran, Blitze zuckten, und Thor raste mit seinem Bocksgespann auf den Versammlungsplatz zu und brachte den Streitwagen genau vor Odin zum Stehen.
»Wer hat das getan? Ich werde ihn töten!«, brüllte der Donnergott und schwang seine Peitsche in der Faust. Thor war so außer sich vor Zorn, dass die Götter allesamt einen Schritt zurückwichen, und erst Odin gelang es, seinen ältesten Sohn dazu zu bringen, seine Wut zu bezähmen.
Als Thor sich etwas beruhigt hatte, diskutierte er mitden anderen noch einmal den genauen Tathergang. Aber auch er konnte sich nicht erklären, wer Sif, der Schönen, so etwas Gemeines hätte antun können und warum. Heimdall, der Wächter Asgards, schlug vor, künftig besonders genau in alle Welten hinauszulauschen, um zu erfahren, ob jemand sich mit der Tat brüstete. Odin sandte seine beiden Raben aus, um nach Zeugen zu suchen, und Frigg, Odins Gemahlin, schenkte Sif ein wunderbares Tuch, um ihr kahles Haupt damit zu bedecken. Niemand sprach es an, aber insgeheim waren alle erschüttert darüber, wie leicht es dem Eindringling gelungen war, unbemerkt nach Asgard und noch dazu in die Burg eines Gottes einzudringen.
»Thor«, sagte Loki und legte dem Donnergott die Hand auf die Schulter, »sag Sif, sie soll nicht länger weinen. Ich werde ihre Schande in einen Triumph verwandeln und ihr Haar beschaffen, das noch viel schöner ist, als es das ihre war.«
»Wie soll das gehen?« Thor sah Loki ärgerlich an, »ihr Haar war so schön, dass es selbst im Himmel nichts Vergleichbares gibt.«
»Im Himmel nicht«, antwortete Loki, und ein Flackern trat in seine Augen, »aber unter der Erde.«
Damit ließ er Thor stehen, schlüpfte in ein Paar geflügelter Schuhe, die er von Odin als Geschenk erhalten hatte, und flog hinab nach Schwarzalbenheim, dorthin, wo die Zwerge ihre Minen in die Berge trieben und in Stollen nach Gold, nach Silber und Edelsteinen gruben.
Loki glitt in einen der Schächte. Es war stickig unddunkel. Der Gang führte immer weiter in den Berg hinein, bald wurde er breiter und gabelte sich, aber Loki zögerte keinen Moment, welche Richtung er einschlagen musste. Er war Herr über das Feuer, er kannte sich aus im
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