Die Nordischen Sagen
aber, gleich neben der Quelle Urd im Reiche Asgard bestimmte Odin als Versammlungsort der Götter. Und hier war es, wo die Götter künftig zu Rate saßen über die Geschicke der Welt.
Von nun an nannte Odin sich selbst oft den Herrn der Zauberer, denn seine magischen Kräfte waren so allumfassend geworden, dass niemand sich mit ihm messen konnte. Er war der Herr über Wetter und Gezeiten, über Liebe und Hass, über Kriegsglück und Tod. Und die Menschen beteten zu ihm um Gnade und seinen Beistand in der Schlacht.
Als Odin von der Quelle der Weisheit nach Hause zurückkehrte, war er mit sich sehr zufrieden. Er spürte das neue Wissen wie ein helles Licht in sich, und wenn er angesprochen wurde, so hörten sich seine Antworten jetzt so wunderbar klug an, dass er gerne und viel sprach.
In diesen Tagen war er ausgesprochen guter Laune und kümmerte sich um seine Aufgaben als Göttervater mehr als je zuvor.
Gleich zu Beginn des Tages erwartete er den Bericht der beiden Raben Hugin und Munin, die er während der Nacht als Kundschafter durch die Welten geschickt hatte. Da sie aber in der goldenen Zeit selten etwas zu erzählen hatten, das Odin nicht schon gewusst oder das ihn überhaupt interessiert hätte, sandte er die Vögel häufig auch nur aus, um göttliche Aufträge zu überbringen. So flatterten Hugin und Munin tief hinab in die Stollen Schwarzalbenheims in Midgard, wo die Zwerge ihre Schmieden hatten, und bestellten in Odins Auftrag magische Waffen, kostbaren Schmuck und metallene Werkzeuge. Oder sie durchquerten das oberste Reich, flogen durch Wolkenbänke und über Berggipfel, bis sie ganz im Westen den Zaubergarten der Göttin Idun erreichten, um in Odins Namen einen Korb goldener Äpfel zu verlangen. Und hin und wieder geschah es auch, dass der Göttervater die Raben ganz willkürlich zu irgendeinem lebenden Wesen in irgendein Reich schickte mit der Botschaft: »Odin sieht dich.«
Frieden lag über den Welten, und da Odin die meisten himmlischen Aufgaben unter den Göttern verteilt hatte, blieb ihm selbst kaum etwas zu tun. Am Vormittag saß er oft stundenlang auf seinem Wolkenthron, aber da es sowieso nichts zu sehen gab, schlief er die meiste Zeit. Am Nachmittag versammelte er alle Götter unter den Zweigen Yggdrasils, um wichtige Entscheidungen zu beraten oder Gericht zu halten. Doch auch hier ereignetesich nichts, was Odin wirklich unterhalten hätte, und so begann er, sich zu langweilen.
Deshalb suchte und fand er bald einen neuen Zeitvertreib. Er schlich sich heimlich aus dem Palast und streifte umher, um Ausschau nach schönen Frauen zu halten. Damit Frigg ihm dabei nicht in die Quere kam, verwandelte er sich, sobald er Gladsheim verließ. So besuchte er mal in der Gestalt eines Adlers, mal als edler Krieger oder starker Knecht anmutige Göttinnen, Nymphen und manchmal sogar Riesinnen, um sich mit ihnen zu vergnügen. Es kam sogar vor, dass Odin bis an die Grenzen der obersten Welt wanderte, um im Reich der Lichtalben nach neuen Gespielinnen zu suchen.
Lichtalben sind Naturgeister und so schön wie der Tag. Von ihrer Herkunft sind sie fast so edel wie die Götter. Kein Wunder also, dass Odin diesen Umgang ganz besonders schätzte. Unermüdlich wanderte er zwischen Wäldernund Flüssen umher und durchstöberte jeden Strauch und jeden Tümpel in der Hoffnung, auf die Wohnstatt einer verführerischen Albin zu treffen. So kam es, dass der Göttervater oftmals viele Nächte lang fortblieb. Obwohl Odin immer darauf achtete, unerkannt zu bleiben, sprachen sich seine Abenteuer bald herum, und viele Götter, Riesen, Geister und andere Wesen rühmten sich, seine Kinder zu sein.
Eines Morgens jedoch, als Odin in Gestalt eines Adlers nach Gladsheim zurückkehrte, traf er dort auf Frigg. Odin gab sich nicht zu erkennen und beschloss, unauffällig auf der Burgmauer sitzen zu bleiben und wie ein Raubvogel in die Landschaft zu spähen.
Frigg, die gerade den Burghof durchqueren wollte, blieb bei seinem Anblick augenblicklich stehen und sah zu ihm hinauf.
»Das ist unwürdig, Odin. Leg das Federkleid ab und komm herunter!«
Odin aber blieb auf der Mauer und schwankte nach Adlerart von einer Klaue auf die andere.
»Dann muss ich also weiter zu Geflügel sprechen«, sagte Frigg und starrte ihn wütend an. »Mal abgesehen davon, dass kein normaler Adler ein derartig buntes Gefieder besitzt und noch dazu einäugig ist, gibt es keine Verkleidung, in der ich dich nicht erkennen würde. Und du sollst wissen, dass
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