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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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Götter hielten den Vorfall damit für erledigt und gingen wieder ihren göttlichen Beschäftigungen nach.
    Thor und Loki aber blieben bei Odin, und bald lachten sie gemeinsam über die Vorstellung, Gullveig, die kleine Zauberin, hätte ernsthaft nach Odins Macht greifen wollen.
    Bestimmt hätte der Allvater die ganze Angelegenheit vergessen, wäre nicht Loki eines Tages aufgeregt in Odins Saal gestürmt.
    »In Midgard herrscht Krieg. Die Menschen töten einander, und selbst der Bruder ist des Bruders Feind.«
    »Was ist geschehen? Bisher waren sie doch ganz friedlich?«
    »Sie streiten um Gold.«
    Odin strich sich mit der Hand über sein Auge und blinzelte.
    »Aber ... sie kennen doch nur Eisen? Gold ist den Göttern vorbehalten.«
    Mit schnellen Schritten eilte Loki zu einem großen Eichentisch, ergriff die silberne Kanne, die darauf stand, und reichte sie Odin.
    »Hier, trink einen Schluck Wasser, Göttervater. Die Vanin Gullveig verteilt goldene Armringe und Spangen unter den Menschen. Nun lernen sie die Habgier kennen.«
    Als Odin das hörte, verschluckte er sich und schleuderte die Wasserkanne wütend von sich.
    »Schon wieder Gullveig!«, rief er, und ganz Walhall erbebte unter der Gewalt seiner Stimme.
    »Geh, Loki, und bring mir dieses Weibsstück.«
    Und auf der Stelle verwandelte sich Loki in einen Adler und flog hinab nach Midgard.
    Odin aber blickte zu seinen Raben: »Wieso weiß ich nichts davon, ihr Aasfresser?«, schrie er und warf den Thronsessel um, dass die Raben erschrocken aufflogen. »Wieso muss erst Loki kommen, um mir zu erzählen, was in der Welt der Menschen vor sich geht?«
    »Weil wir nichts davon gesehen haben«, kreischte Munin.
    »Wir haben nichts davon gewusst«, krächzte Hugin.
    Und ehe Odin noch ein weiteres Wort sagen konnte, schossen sie flügelschlagend durch das Fenster davon.
    Alle Götter hatten sich am Richtertisch unter den Zweigen der Weltesche eingefunden, als Loki erschien, Gullveig an seiner Seite. Sie war groß und schlank und blickte überlegen in die Runde der Asen.
    »Ich habe sie dabei überrascht, wie sie mit vollen Händen goldene Ketten und Spangen unter den Sterblichen verteilte«, rief Loki und gab Gullveig einen Stoß, dass sie vor Odins Tisch auf die Knie fiel.
    Odin betrachtete die schöne Vanin nachdenklich. »Wieso tust du das?«
    Gullveig sah Odin fest an. »Ich habe kein Gold verteilt.«
    »Dann willst du also behaupten, dass die Götter lügen?«, fragte Odin und hob die Augenbrauen.
    Doch Gullveig schwieg.
    »Na, dann frage ich mich allerdings, wieso du hier bist«, fuhr Odin fort.
    »Weil niemand seinem Schicksal entgeht«, sagte Gullveig, und der Blick ihrer hellgoldenen Augen machte Odin schwindelig. Hilfe suchend sah er zu Loki, doch der war damit beschäftigt, Gullveig gewaltsam auf den Knien zu halten. Seine Hände bohrten sich wie Krallen in die Haut der Seherin, aber Gullveig ließ sich keine Schmerzen anmerken.
    »Ragnarök wird kommen«, fuhr sie fort, »gellend heult Garm vor Gnipahellir. Es reißt die Kette, es rennt der Wolf. Dann beginnt eine neue Zeit. Das sind die Worte der Prophezeiung. Wissen die anderen Götter, was ihnen bevorsteht? Wissen sie vom letzten Kampf auf dem Wigridfeld? Hast du ihnen von der Prophezeiung erzählt? Odin, wir alle werden sterben.«
    Odin war vor Schreck wie gelähmt. Hastig blickte er sich um. Keiner der Götter reagierte. Hatten sie nicht verstanden, was die Vanin gesagt hatte? Was würde geschehen, wenn sie erkannten, dass er ihnen dieses Wissen vorenthalten hatte?
    »Gullveig, ich möchte, dass du deine Goldschätze mit uns teilst und dass du keine weiteren Verwandlungszauber ausführst.« Odin sprach schnell und leise und war eilig aufgestanden, um die Verhandlung zu beenden.
    Die Vanin legte den Kopf schief und lächelte.
    Sofort schlug Loki ihr ins Gesicht, dass sie schwanke und sich mit einer Hand auf dem Boden abstützen musste. »Du wirst uns nicht vernichten, Weib«, zischte Loki und schlug noch einmal nach Gullveig.
    Langsam hob die Seherin den Kopf und strich ihr Haar zurück, und Odin wünschte insgeheim, Loki würde aufhören.Etwas an Gullveig war anders. Die Art, wie sie den Kopf hob vielleicht oder der Ausdruck in ihren Augen. Gullveig war unbezwingbar, selbst jetzt noch.
    »Odin, sie hat absichtlich Krieg gesät unter den Menschen«, rief Loki und trat nach ihr. »Wir dürfen sie nicht einfach gehen lassen.«
    Odin sah zu Gullveig, der das Blut aus der Nase lief, und dann wieder zu Loki.

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