Die Nordischen Sagen
Wie grausam dieser schöne Jüngling sein konnte. Trotzdem, Odin war ihm dankbar, dass Loki das Gespräch von der Prophezeiung abgebracht hatte, und so unternahm er nichts.
Alle schwiegen, entsetzt und gebannt von dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Nur Frigg, die neben Odin gesessen hatte, durchbrach die Starre. Als sie sich erhob und den Ratstisch verließ, war jeder ihrer Schritte wie eine wortlose Anklage gegen alle, die diese Behandlung Gullveigs duldeten.
Loki aber trat vor die Götter hin und rief mit lauter Stimme: »Götter, Brüder, seit Anbeginn der Zeit gibt es eine Prophezeiung, die uns Göttern den Untergang voraussagt.«
Jetzt erst schienen die Worte ins Bewusstsein der Götter zu dringen.
Odin blickte auf den Boden, während sich um ihn her aufgeregte Stimmen erhoben. Aber Loki gebot ihnen zu schweigen, und die Götter verstummten.
Nur Heimdall nicht. »Bist du es jetzt, der uns Anweisungen gibt? Odin, warum darf er sich so aufführen?«
Doch Odin schüttelte nur den Kopf und bedeutete Loki fortzufahren.
»Heimdall, ich weiß, dass du mir misstraust«, sagte Loki und erwiderte Heimdalls stechenden Blick. »Aber es geht hier nicht länger um mich oder um dich. Das dunkle Blut ist stärker als das edle Blut der Götter. Wir alle sind in Gefahr. Asgard ist in Gefahr. Die Riesen sinnen seit Urzeiten auf Rache. Jetzt verbünden sie sich mit den Ausgeburten Niflheims, und auch die Vanen konnten sie für sich gewinnen. In der Prophezeiung heißt es, dass Krieg kommen wird und dass diese Kämpfe der erste Schritt sind in den Untergang der Asen.«
Er schwieg einen Moment und ließ seine Worte auf die Götter wirken. Dann fuhr Loki fort: »Gullveig hier hat versucht, diesen Krieg zu entfachen, indem sie Gold verteilte. Wer weiß, ob sie damit nicht noch weitere Verbündete werben wollte. Ich sage: Verbrennt sie!«
Wieder brandete das Stimmengewirr um Odin auf, und nach und nach sahen immer mehr Asen in Gullveig eine Gefahr für ihre eigene Existenz. Gullveig selbst schwieg, und auch als alle Götter, mit Ausnahme des schönen Balder, für Gullveigs Tod stimmten, veränderte sich nichts im Gesicht der Vanin.
Sie banden Gullveig an einen Pfahl und errichteten um sie herum einen Scheiterhaufen. Loki, der Feuergott selbst, entzündete den Brand.
Bald züngelten die Flammen meterhoch, aber Gullveig gab keinen Laut von sich. Und als der Holzstoß niedergebrannt war, trat die goldglänzende Zauberin unversehrt daraus hervor. Ein zweites und ein drittes Mal versuchten die Asen vergeblich, Gullveig auf dem Scheiterhaufen zu töten. Dann ließen sie sie gehen.
Da Gullveig jedoch dem Geschlecht der Vanen angehörte und weil die Asen versucht hatten, ihr Leben zu nehmen, kamen bald darauf Abgesandte der Vanen zu den Asen und verlangten eine Erklärung. Odin aber lehnte alle Gespräche ab und forderte die Vanen zum Kampf.
So kam der Krieg nach Asgard. Der Himmel bebte, und die Wolken färbten sich blutrot, als stünde die oberste Welt in Flammen. Zwei mächtige Heere stürmten in Streitwagen aufeinander ein und schwangen ihre magischen Waffen. Der Hass war unermesslich groß. Die Kämpfer der Asen schienen zunächst überlegen, Odin selbst führte sie an. Mit glänzendem Brustpanzer und Goldhelm, in der Hand einen weißen Schild. Der blaue Mantel wehte, als er auf seinem Pferd durch die Reihen der Gegner jagte, und nichts schien der Gewalt seines Zorns standzuhalten.
»Kommt nur her!«, brüllte er ins Schlachtgetümmel, »dann sollt ihr Gungnir zu spüren bekommen. Odin wird euch lehren, was es bedeutet, sich gegen die Asen aufzulehnen.« Und damit schleuderte er seinen Speer gegen die Vanen.
Links und rechts von Odin trabten seine beiden Wölfe Geri und Freki mit gesträubtem Fell. Kam ein Feind auch nur in die Nähe des Göttervaters, fletschten die grauen Bestien ihre messerscharfen Zähne und knurrten, dass man es bis hinunter nach Midgard hören konnte.
Odin kämpfte, und mit jedem Streich, den er gegen die Vanen führte, wurde ihm leichter ums Herz. Er war der Gott aller Welten, und das würde auch so bleiben.Auch die anderen Asen kämpften wie im Rausch. Thor, der Donnergott, schleuderte seinen gewaltigen Kriegshammer Mjöllnir über das Schlachtfeld und streckte seine Gegner damit nieder. Und das Schwert des Kriegsgottes Thyr troff vom Blut der Feinde. Unerbittlich tobte der Krieg, und die oberste Welt litt dabei schweren Schaden.
Trotzdem kämpften auch die Vanen tapfer. Sie waren nicht so
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