Die Nordischen Sagen
Jörmungand hatte keine Kraft mehr, sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten.
»Ich sterbe!«
Wie durch dichten Nebel hörte Thor ihre Gedanken.
»Ich sterbe!«
Ein drittes Mal schnellte der Hammer aus Thors Hand und versetzte Jörmungand den Todesstreich. Die Schlange erschlaffte und sackte in ihr Blut.
Thors Beine wurden schwer. Er ging einen Schritt zurück, weg von der toten Bestie. Er hatte es geschafft. Er hatte den Kampf mit Jörmungand überlebt. Vielleicht würde die Prophezeiung jetzt doch nicht ...? Thor taumelte rückwärts, vier Schritte, fünf. Wo war Odin? Hatte sein Vater es gesehen? Hatte er gesehen, wie er gesiegt hatte? Noch zwei Schritte ...
Odin schaute herüber. Thor stürzte. Er konnte nichts mehr sehen, das Brennen hatte jetzt seinen ganzen Körper ergriffen. Plötzlich war alles gut. Er hatte keine Schmerzen mehr. Thor lächelte und starb.
Loki blickte über das Schlachtfeld, und ein Gefühl des Triumphs breitete sich in ihm aus. Es konnte nicht mehr lange dauern, denn der schlammige Boden war übersät von toten Göttern. Nie hatte er sich so gut gefühlt wie heute. Seine Krieger streiften über die Ebene, schlugen auf die gefallenen Körper ein, rangen letzte Überlebende nieder.
Plötzlich stand Fenrir vor Loki.
»Ihr habt ohne mich angefangen?«
Loki blickte seinen Sohn nicht an, als er antwortete, sondern verfolgte weiter die Schlacht. »Ich kann nicht auf jeden Köter warten. Wo bist du so lange gewesen?«
Fenrir sträubte die Nackenhaare. »Walhall gibt es nicht mehr. Wo ist Odin?«
»Odin steht noch. Geh und hol dir deine Belohnung, Fenrir.«
Der Wolf legte die Ohren an und fletschte die Zähne, dann verschwand er zwischen den Kämpfenden.
Kaum war er weg, spürte Loki einen brennenden Schmerz in der Schulter, und als er sich umwandte, stand Heimdall vor ihm, mit bluttriefendem Schwert.
»Von hinten, Heimdall?«
»Hast du etwas anderes verdient?«
Heimdall ging leicht in die Knie und verwandelte sich, wie es nur die mächtigsten Götter können, in ein Tier. Augenblicklich kauerte ein Seehund vor Loki im Schlamm.
»Warum nicht?«, flüsterte Loki zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dann würde der letzte Kampf eben in Tiergestalt ausgetragen werden. Immer wieder hatte er Heimdalls Verachtung ertragen müssen. Jetzt würde Heimdall dafür bezahlen. Loki betrachtete noch einmal seine blutende Wunde und nahm dann ebenfalls die Gestalt eines Seehunds an.
Die beiden Tiere umrundeten sich, sprangen sich an und verbissen sich gegenseitig in ihre schwerfälligen Körper. Sie wälzten sich durch den Morast und brachten sich klaffende Wunden bei. Bald war nicht mehr auszumachen, welches der Tiere Heimdall und welches Loki war. Sie bildeten ein Knäuel aus Fell und Zähnen, und ihr Stöhnen verstummte erst, als sie einander getötet hatten.Nur noch wenige Götter standen, und auch das dunkle Heer hatte viele Krieger verloren. Dennoch waren sie in der Überzahl. Odin wusste, dass es vorbei war. In den letzten Stunden war er alt geworden und müde.
»Odin, Vater. Wir kommen!«
Aus dem Aschedunst eilten vier junge Götter auf Odin zu. Es waren seine beiden Söhne Widar und Vali und die Nachkommen Thors, Modi und Magni. Mit ungezügelter Kraft streckten sie alle Angreifer nieder, die sich ihnen in den Weg stellten, und kämpften nun an Odins Seite.
In Magnis Hand schimmerte Thors Donnerhammer.
Hoffnung durchströmte Odin, und die Müdigkeit fiel von ihm ab. Noch einmal war er Odin, der Götterherrscher. Sein Speer durchbohrte Trolle und Riesen, und sein blauer Mantel war schwer vom Blut der Feinde.
Dann traf auch er auf sein Schicksal.
Der Fenriswolf war inzwischen so groß geworden, dass es aussah, als würde sein aufgesperrter Rachen Himmel und Erde berühren. Er schlenderte auf Odin zu. Und blieb vor ihm stehen.
»Dies ist das Ende der Zeit.«
Odin schloss sein Auge, atmete aus und blieb einfach stehen. Alle Anspannung fiel von ihm ab, und Gungnir glitt aus seiner Hand.
Langsam öffnete der Wolf das Maul und verschlang Odin.
Nach der Schlacht
E s war still. Der Sturm war abgeflaut, die Asche sank lautlos auf das Wigridfeld und bedeckte die Toten.
Auch Fenrir lag im Staub, getötet von Odins Sohn Widar.
Das Feuer des Weltbrands hatte aufgehört zu wüten. Es war dunkel. Nur zwischen den Ruinen Asgards glomm der Schein eines Feuers.
Widar, Vali, Modi und Magni hatten überlebt. Sie saßen auf den Trümmern der alten Paläste und dachten an das Vergangene. Über
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