Die Normannen
Eindringlinge, die seit 852 in Frankreich zu überwintern begannen, durch Geldzahlungen zum Stillhalten zu bewegen.
Angesichts der Schwäche der königlichen Autorität nahmen lokale Kräfte den Schutz des Landes in die Hand: Die Wikinger, die 885/86 Paris belagerten, konnten nur durch das Eingreifen des Grafen Odo aus dem Haus der Robertiner besiegt werden. Der ostfränkische Herrscher Karl III. der Dicke, der für kurze Zeit das Karolingerreich wieder vereinigt und die Kaiserkrone errungen hatte, zeigte sich unfähig, die Wikinger aufzuhalten; daher setzten die Großen des Reichs ihn ab. Mit dem erwähnten Odo wurde 888 im Westfrankenreich zum ersten Mal ein Nichtkarolinger König.
Zuvor waren alle Bemühungen gescheitert, einzelne Anführer der Wikingerbanden in das fränkische Reich zu integrieren: Kaiser Ludwig der Fromme gab 826 dem Dänen Harald Klak, der bereit war, das Christentum anzunehmen, Land in Friesland und wurde sein Taufpate; doch dieser erwies sich als wenig zuverlässig und unterstützte 833/34 die Rebellion von Ludwigs Sohn Lothar. Auch das Abkommen Lothars mit dem Wikinger Rorik, der 850 das friesische Handelszentrum Dorestad erhielt, war nur von kurzer Dauer. Ähnlich erging es dem westfränkisehenKönig Karl II. dem Kahlen (gest. 877), der dem Bretonenführer Salomon die Halbinsel Cotentin, den westlichsten Teil der späteren Normandie, abtrat und ihm sogar den Königstitel zugestand, um ihn zur Abwehr der Skandinavier zu bewegen. Ebenfalls erfolglos blieb der Versuch des ostfränkischen Herrschers Karls III., durch die Abtretung eines Teils von Friesland einen Wikingeranführer in das Reich zu integrieren, der nach der Taufe den Namen Gottfried annahm und 882 die Karolingerin Gisela heiratete.
Die Geburt der Normandie Mehr Glück hatte dagegen zu Beginn des 10. Jahrhunderts der westfränkische König Karl III. der Einfältige (gest. 929). Ihm gelang es, Rollo (Hrolfr/Rolf), den Anführer der Wikinger, die sich an der unteren Seine angesiedelt hatten, in sein Reich zu integrieren. Der Vertrag, der 911 in Saint-Clair-sur-Epte zwischen beiden geschlossen worden sein soll, gilt im modernen Rückblick als die Geburtsurkunde der Normandie. Überliefert ist er nur durch den Chronisten Dudo von Saint-Quentin (in der Picardie). Dessen lateinische Geschichte der Herzöge der Normandie entstand aber erst zwischen 994 und 1015 im Auftrag von Rollos Enkel, dem normannischen Herzog Richard I. (gest. 996).
Dudo erzählt, dass König Karl, um Frieden und Wohlstand in seinem Reich zu erhalten, keine andere Wahl geblieben sei, als mit Rollo, dem «Herzog der Heiden», ein Friedens-, Beistands- und Freundschaftsbündnis zu schließen. Dieses sei durch die Taufe des Wikingers, der den christlichen Namen Robert annahm, und seine Heirat mit der Königstocher Gisela besiegelt worden. Der Vermittler der Vereinbarung sei Erzbischof Franco von Rouen gewesen; an ihr habe auch Herzog Robert von
Francia
teilgenommen. Karl habe Rollo das Land von der Epte, die circa 90 km südöstlich von Rouen in die Seine fließt, bis zum Meer sowie die gesamte Bretagne übergeben; dieser habe seine Hände in die des Königs gelegt.
Der vom christlichen Bildungskanon geprägte Dudo verfügte als Kaplan und Kanzleibeamter Herzog Richards II. (1011 ist er als
capellanus
und 1015 als
cancellarius
bezeugt) zwar übergute Informationen, doch moderne Historiker haben seiner Darstellung wenig Glauben geschenkt, da Rollo noch nicht den Herzogstitel führte; das tat erst sein Enkel Richard I. Auch war Robert von
Francia
(gest. 923) nicht Herzog – das war erst sein Sohn Hugo der Große, gest. 956 –, sondern nur Markgraf von Neustrien, dem Gebiet zwischen Seine und Loire. Das lehnsrechtliche Ritual, bei dem der Lehnsmann seine Hände in die seines Lehnsherrn legte, ist zudem ein Brauch, der erst später aufkam. Und auch die Nachricht über Rollos Ehe mit einer Tochter König Karls und die Vergabe der Bretagne an ihn schienen Erfindungen des Chronisten zu sein.
Zweifellos ist der sogenannte Akt von Saint-Claire-sur-Epte eine literarische Fiktion Dudos, mit der dem normannischen Herzogtum aus der Rückschau ein «programmatischer Gründungsakt» geliefert wurde (van Eickels). Andererseits hat Pierre Bauduin (2004) gezeigt, dass an Dudos Geschichte bei Weitem nicht alles erfunden ist: Rollo wurde tatsächlich ein Vasall des fränkischen Königs, auch wenn er die Normandie nicht als Lehen, sondern als Eigentum erhielt. Sein
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