Die Normannen
Freundschafts- und Heiratsbündnis mit Karl sowie seine Konversion zum Christentum sind ebenfalls keine Erfindungen des Geschichtsschreibers, auch wenn die 911 vereinbarte Ehe mit der damals erst drei- oder vierjährigen Königstochter nicht zustande kam. Was Dudo verschweigt, ist die Tatsache, dass Rollo sich schon lange vor 911, vermutlich um 876, an der unteren Seine niedergelassen und dort enge Verbindungen mit führenden fränkischen Adelsfamilien geknüpft hatte. Um 890 heiratete er Popa, eine Tochter des Grafen Berengar von Bayeux aus dem Geschlecht der Unruochinger, dessen prominentestes Mitglied, der Markgraf Berengar I. von Friaul (gest. 924), im Jahre 888 König von Italien und 915 sogar römischer Kaiser wurde. Aus Rollos Ehe mit Popa gingen ein Sohn, Wilhelm, und eine Tochter hervor, die zuerst Gerloc genannt wurde, dann aber den christlichen Namen Adele erhielt.
Karl der Einfältige überließ also die Grafschaft Rouen nicht einem heidnischen Neuankömmling, sondern einem Wikinger, der hier bereits seit 35 Jahren ansässig gewesen war und begonnen hatte, sich in die fränkische Führungsschicht zu integrieren.Das von Rollo beherrschte Gebiet wurde von den Flüssen Bresle, Epte und Avre begrenzt und war etwas kleiner als die auf die Spätantike zurückgehende Kirchenprovinz Rouen. Hier verwandelten sich die heidnischen Skandinavier langsam in christliche, romanisierte Normannen, ähnlich wie aus den Wikingern, die sich im Gebiet von Novgorod und Kiev ansiedelten, slavisierte
Rus’
(Russen) wurden.
Ein neues Volk: die Normannen Damit sind wir bei der schwierigen Frage der sogenannten Ethnogenese (Volksbildung) der Normannen. Im ethnischen Sinne versteht man unter Volk die Gesamtheit von Menschen mit gleicher Sprache, Kultur und Abstammung. Im 19. Jahrhundert stellte man sich Völker als naturwüchsige Einheiten vor, als biologische Abstammungsgemeinschaften. Das führte zu völkischen Rassentheorien, die sich im 20. Jahrhundert der Nationalsozialismus zu eigen gemacht hat. Heute sind sich die Historiker einig, dass Völker nicht exakt definierbar sind. Sie sind Konstrukte, d.h. imaginäre Gemeinschaften, die auf Vorstellungen bestimmter Eigenheiten beruhen, mit denen sich ein Volk definiert und von anderen abgrenzt. Im frühen Mittelalter, das durch Migrations- und Integrationsprozesse gekennzeichnet war, trugen Erzählungen von berühmten Vorfahren, sogenannte Abstammungsmythen, dazu bei, dass ein Volk eine konkrete Identität annahm.
Der bereits erwähnte Dudo von Saint-Quentin beschaffte den Normannen illustre Vorfahren. Das berühmteste Migrantenvolk waren die Trojaner Homers, von denen, wie Dudo gelesen hatte, die Römer und die Franken ihre Herkunft ableiteten. Hinter diesen durften die Normannen aus Sicht des Geschichtsschreibers nicht zurückstehen. Dudos Argumentation war einfach und verwegen zugleich: Da die Normannen aus Dänemark, lateinisch
Dacia
genannt, kamen, wo sich der gotische Stamm der Dänen (
Dani
) niedergelassen hatte, mussten sie Nachfahren des Trojaners Antenor sein, der König von
Dacia
gewesen war.
Ein Volk wurden die Normannen erst, als sich die in Nordfrankreich ansässig gewordenen Skandinavier mit den von Galliern,Römern, Bretonen und Franken abstammenden Einheimischen vermischten und ihre Religion und Sprache annahmen. Dass die skandinavischen Migranten hauptsächlich Männer waren, erleichterte die Assimilierung ihrer Nachkommen. Die Ethnogenese der Normannen und die Bildung der Normandie als Region zogen sich über mehrere Generationen hin und waren schließlich um das Jahr 1000, als zum ersten Mal der Name Normandie auftaucht, so gut wie abgeschlossen.
Etwa um dieselbe Zeit vereinte Fürst Vladimir (978–1015) aus dem von dem Wikinger Rurik begründeten Geschlecht der Rurikiden die Reiche von Novgorod und Kiev, mit Letzterem als Hauptstadt. Aus Schweden stammende Skandinavier, vorwiegend Händler, die aber auch gut die Waffen zu führen verstanden, hatten sich im 9. und 10. Jahrhundert zwischen Finnischem Meerbusen, Schwarzem und Kaspischem Meer niedergelassen und mit der einheimischen slavischen Bevölkerung vermischt. Die Slaven nannten sowohl die skandinavischen Migranten, die aufgrund ihres Reichtums und ihrer Schlagkraft bald die Oberhand gewannen, als auch das von ihnen beherrschte Gebiet
Rus’
, woraus später der Name Russland entstand.
Die
Rus’
trieben Handel mit dem byzantinischen Kaiserreich. Als man in Konstantinopel, das permanent unter
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