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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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suchte Schlüter sie zu unterbrechen. »Das ist …«
    »Schmeckt nicht?«
    »Doch, gut, sehr gut sogar, aber das ist …«
    Zu spät. Der Teller war voll wie zuvor.
    Er trank das Glas leer, denn der Mensch glaubt, Völlerei helfe gegen Völlerei, dem Glas aber ging es nicht besser als dem Teller, es wurde gefüllt, denn es herrschte Gerechtigkeit und Gastfreundschaft in dieser Wohnung im zweiten Stock von Manhattan.
    »Na zdrowie!«
    »Prost!«
    »Auf ein langes Leben!«
    »Auf die Kinder. Haben Sie Enkelkinder?«
    »Ich muss noch fahren«, wich Schlüter aus.
    »Jesteśmy samochodem też!«, parierte Wladi. Gregor und Wlodi sekundierten mit breitem Lächeln und Sigismund übersetzte, sie seien auch mit dem Auto da. »Gibt Taxi auch«, wiegelte er ab.
    Schlüters wechselten einen Blick. In einer alten Ehe brauchte es keine Worte. Christa packte ihr Glas, hob es ihm entgegen und nahm einen Schluck, vorsichtiger als beim ersten Mal, Schlüter tat es ihr nach. Und so ging es weiter, sie schmausten und tranken. Schlüter wurde warm, dann heiß, Schweiß stand auf seiner Stirn, er vergaß den Namen Kurbjuweit, nach dem er hatte fragen wollen, das Leben war ein Federkissen, lustige Reden flatterten in der Luft, und Christa, die rote Backen bekommen hatte, kicherte mehr als nötig.
    »Und jetzt die Würste!«, befahl Karol Stachowiak, wischte sich den Mund und erhob sich.
    Seine Frau sammelte die Teller ein.
    »Können wir singen!«, rief Sigismund und hob an, eine fremde Weise zu singen, in die seine drei Kumpane sofort einstimmten, mit mächtiger Bruststimme und ernsten Gesichtern.
    »Wir bringen euch bei!«, rief er nach der zweiten Strophe. »In Polen immer wird gesungen!«
    »Was ist das für ein Lied?«, fragte Christa.
    »Von Polen, das noch nicht verloren ist!«
    Es klingelte an der Wohnungstür.
    Die Alten verschwanden und wenig später hörte Schlüter eine bekannte Stimme. Als der Mann, dem die Stimme gehörte, eintrat, wurde Schlüter nüchtern. Rathjens. Hans-Herrmann Rathjens, der Streithammel aus dem Engelsmoor, der Mann, gegen den er mehr Prozesse geführt hatte als gegen jeden andern. Der Letzte, mit dem er einen Abend verbringen wollte. Hätte er doch nur gefragt!
    »Ssü, de Avkoot is ok dor! {23} «, wurde er höhnisch begrüßt.
    »Guten Abend, Herr Rathjens«, wahrte Schlüter seine Würde, aber die Hand behielt er bei sich. Alles hatte seine Grenze.
    »Sie kennen sich schon, wie schön«, freute sich Stachowiak und schob einen zweiten Stuhl neben den seiner Frau, die sogleich eine Bigos-Reserve aus der Küche brachte.
    »Prost«, sagte Christa und hob ihr Glas. »Auf bessere Nachbarschaft.« Wie wahr.
    »Prost«, sagte Rathjens, ergriff das Glas, das Stachowiak ihm hinhielt, und leerte es. »Will doch endlich mal schmecken, was aus meinen Schweinchen geworden ist.«
    In der Tat, es war eine peinliche Strafe, dem Mann beim Essen zusehen zu müssen. Schlichtmann hatte nicht übertrieben. Rathjens schnaufte, als wolle er seine toten Schweine übertreffen, deren sterbliche Reste er fraß; breitbeinig, den Bauch zwischen den Knien, hing er über seinem Teller, den linken Ellbogen auf dem Schenkel, mit dem rechten verscheuchte er die Gastgeberin, er schaufelte sich durch das köstliche polnische Nationalgericht, würgte und schluckte. Er führte einen Blitzkrieg am Tisch.
    Schlüter suchte Christas Blick, aber sie konnte, halb angewidert, halb fasziniert, die Augen nicht von dem fressenden Menschen wenden. Schließlich hielt er sein Glas ergeben Sigismund entgegen, der mit einer neuen Flasche in der Hand erschien, um das entsetzte Schweigen zu bekämpfen, das den Raum erdrückte. Schlüter trank. Aus dem Gesangsunterricht wurde nichts, Polen war verloren.
    Nach weniger als fünf Minuten hatte Rathjens den Vorsprung der anderen aufgeholt. Er strich sich über seinen prallen Bauch, über dem sich ein Gürtel spannte wie der Äquator um die Welt.
    »Kann’n eten {24} «, grunzte er zufrieden, rülpste und soff sein Glas leer, hielt es Sigismund hin zur Neubetankung, leerte es erneut, während er mit der freien Hand nach der Wodkaflasche griff und vor sich auf dem Tisch deponierte. »Das mien! {25} «, sagte Rathjens und grinste fies.
    »Gut«, antwortete Sigismund nur. Diesmal ohne zu lächeln.
    »Was heißt eigentlich ›ratunku‹?«, fragte Christa plötzlich.
    Sigismund sah erstaunt auf. »Hilfe«, antwortete er. »Sagt man, wenn Not ist.« Er warf einen Blick auf Rathjens, der sich nachschenkte.

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