Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Oger - [Roman]

Die Oger - [Roman]

Titel: Die Oger - [Roman] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
zweiten Stufe hockte und zu schlafen schien.
    Cindiel näherte sich ihm im Schatten der Häuserwand, und wenn sie nicht ein kleines, blondes Mädchen mit Zöpfen gewesen wäre, hätte man denken können, es handelte sich bei ihr um einen Meuchelmörder auf dem Weg zu seinem Opfer.
    Als sie noch zwei Schritt von dem Alten entfernt war, hob dieser ruckartig den Kopf und sagte: »Hüte dich vor zerlumpten Männern, die vor Tavernen rumlungern. Denn sie riechen schlecht, sind hässlich und arm, haben Hunger und Durst, und das Schlimmste von allem ist, sie sind alt ...«
    »Darauf werde ich achten«, sagte Cindiel, »Hast du heute schon so einen gesehen, Hagrim?« Sie lächelte unschuldig, und ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Alten.
    Hagrim mochte so um die fünfzig sein, aber sein Erscheinungsbild ließ ihn um zehn Jahre älter wirken. Er rasierte sich regelmäßig, und zwar einmal die Woche. Genauso hielt er es mit dem Waschen. Die Haare des Alten waren schulterlang und grau meliert. Von der Statur her hätte er ein ehemaliges Mitglied der Stadtwache sein können. Von der Kleidung hingegen hätte man annehmen können, sie sei ihm in der dritten Generation vererbt worden. Nicht, weil sie aus der Mode gekommen war, wenn es für grauschwarze Umhänge und graue Leinenhosen überhaupt eine Mode gegeben hätte, nein, es war eher ihr mottenzerfressenes Aussehen. Dies alles schreckte Cindiel aber nicht ab, denn das Besondere an Hagrim waren seine Geschichten und seine Erzählkunst.
    Das Mädchen warf Hagrim zwei Silbermünzen zu, die klimpernd auf der Treppenstufe landeten. »Du wolltest mir noch die Geschichte mit dem Oger und dem Barden zu Ende erzählen«, sagte sie.
    »Das tue ich auch, sobald diese beiden kleinen Silberlinge mir den Einlass ins Paradies erkauft haben und ich sie gegen ein Glas des wunderbaren Traubensaftes eingetauscht habe, um meine trockene Zunge zu lockern. Ich bin gleich wieder da, Prinzessin.«
    »Bitte vergiss nicht, aus dem Himmelreich wiederzukehren, wie vorletztes Mal ...«, sagte sie kichernd.
    Er drehte sich um, schaute ihr tief in die Augen und sagte mit gespielter Ernsthaftigkeit: »Für eine begrenzte Zeit ist der Himmel das Paradies, für die Ewigkeit ist er die Hölle.« Dann öffnete er die Tür und verschwand kurz darauf im Dunstschleier.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder herauskam. »Entschuldige, Prinzessin, aber ich war nicht der einzig Durstige im verheißenen Land.«
    Cindiel schaute erwartungsvoll zu ihm auf, als er sich neben sie auf die Treppenstufe setzte.
    Er nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Rotweinbecher und schloss dabei genießerisch die Augen.
    »Nun gut«, begann er dann, »wo waren wir stehen geblieben?«
    »An der Stelle, wo der Barde nach einem Grund suchte, um den Oger zu überzeugen, ihn nicht zu töten«, antwortete Cindiel rasch.
    »Ach ja ... nun gut ... also: Der Barde sah den Oger genau an, und er bemerkte die Traurigkeit in dieser Bestie. ›Oger, ich sehe die Unzufriedenheit und die Trauer in deinen Augen, und ich weiß, wie ich deinem Leben einen Sinn geben kann.‹ Der Oger schaute zu dem kleinen Menschen hinab, und brummte: ›Wie du machen mich mit Glück? Du Zaubermensch?‹
    ›In gewissem Sinne schon, ich kann andere Wesen mit meinem Können verzaubern?‹ ›Dann tun.‹
    ›Ich werde ein Lied über dich und dein Volk schreiben, damit ihr nie in Vergessenheit geratet. Somit werdet ihr praktisch unsterblich sein.‹ ›Können nicht sterben?‹ ›Eure Seele kann nicht getötet werden.‹ ›Ja, machen jetzt gleich.‹
    Der Barde stimmte eine raue Melodie an und begann, dazu einen Text zu dichten. Er komponierte bis zum Morgengrauen, dann war er endlich fertig. Der Barde trug sein Lied schließlich dem Oger vor, und dieser war sehr angetan von der Ballade. Plötzlich tauchte am Horizont ein Ritter auf, welcher der Spur des Ogers gefolgt war, um ihn zu töten. Der Oger sprang auf und rannte dem Ritter entgegen und schrie dabei: ›Ich unsterblich!‹
    Und das waren auch die letzten Worte in seinem Leben. Na Prinzessin, und was ist die Moral der Geschichte?«, fragte Hagrim.
    »Ich würde sagen«, antwortete sie, »strebe nicht nach Unsterblichkeit, sonst ereilt dich der Tod noch früher als gedacht.«
    »Gut überlegt, gut formuliert, aber dennoch falsch.« Der alte Geschichtenerzähler grinste. »Die Moral lautet eigentlich:
    Wenn du einen Oger triffst, schreib ihm keine Lieder, schlag ihn lieber nieder!«
    Die beiden

Weitere Kostenlose Bücher