Die Opfer des Inzests
nicht gut genug. Es stimmt, daß sie mich 1989 gebeten
hat, ihr ein Buch zu bestellen: Les enfants de la violence 3 .«
Der Vorsitzende an Alain Mozère:
»Was war nach Annies Auszug?«
»Es war sehr schwer. Ich hatte Angst,
ins Gefängnis zu kommen. Ich betete viel, um mich zu erleichtern. Ich hatte
große Angst.«
»Sie hatten Angst um sich selbst. Haben
Sie denn gar keinen Gedanken daran verschwendet, was Annie empfinden mochte?«
Mozère schluchzend:
»Meine Frau hat mir die Augen geöffnet.
Sie hat mir bewußt gemacht, was ich Annie angetan habe. Ich habe das Leben
aller zerstört: Annies, das meiner Frau und meines Sohnes. Wenn meine Frau und
Annie wieder zueinanderfinden könnten... Ich liebe Annie nach wie vor, Herr
Vorsitzender. Ich liebe sie, ich liebe sie immer noch! Ich bereue, was ich
getan habe. Ich bereue...«
Sein Weinen steckt einige im Saal an:
Annies Mutter und Mozères Freund, den LKW-Fahrer.
Annie hat, der Ohnmacht nahe, den Saal
während der Aussage ihrer Mutter verlassen. Sie hat die letzten Worte ihres
Stiefvaters nicht gehört.
Lagerwechsel. Die Zeugen der Anklage
werden gehört.
Sylvie, 25 Jahre,
Krankenhausangestellte, Freundin von Annie. Lakonisch:
»Ich bin eine Arbeitskollegin von
Annie. Sie hat mir von ihren Problernen mit ihrem Stiefvater erzählt, als ein
Buch über Inzest erschien: Ich war zwölf... Sie sagte, ihr sei das
gleiche passiert, ihr Stiefvater habe mit ihr geschlafen. Ich bin nicht
sonderlich neugierig. Ich habe keine Fragen gestellt. Aber auf ihre Bitte hin
habe ich sie zur Beratungsstelle für Vergewaltigungsopfer begleitet. Annie
hatte auf mich keinen sehr aufgewühlten Eindruck gemacht.«
Renaud, 22 Jahre, Elektriker, Verlobter
von Annie:
»Ich habe Annie auf einem Fest kennengelernt.
Wir sind miteinander ausgegangen. Sie benahm sich merkwürdig, wenn es um
Intimitäten ging, war richtig gehemmt. Ich bemühte mich, ihre Persönlichkeit
besser kennenzulernen, und mir wurde klar, daß sie etwas verbarg. Ich brachte
sie dazu, sich mir anzuvertrauen. Als sie mir den Inzest gestand, den sie
erlebt hatte, riet ich ihr, einen Psychologen aufzusuchen und über ihre
Erlebnisse zu sprechen. So wie die Dinge standen, konnte zwischen uns keine
wahre Beziehung entstehen.«
Der Vorsitzende:
»Hat sie Ihnen gesagt, daß ihre Mutter
sie daran hindern wollte zu erzählen, was ihr widerfahren ist?«
»Ja, sie wollten sie mit Geschenken zum
Schweigen bringen: Schmuck, Urlaub in Nizza.«
Alain Mozère fällt ihm ins Wort:
»Nein! Ich habe nicht von Annie
verlangt zu schweigen. Sie wollte in Urlaub fahren. Da wir eine Wohnung in
Hyeres besitzen, ist sie dorthin gefahren. Das war kein Geschenk, um ihr
Stillschweigen zu erkaufen! Und auch der Ring war nur ein Geburtstagsgeschenk.«
Samuel, 24 Jahre, Tischler, Ex-Freund
von Annie:
»Ich war 1990 drei Monate mit Annie
zusammen. Sie war auf sexueller Ebene gehemmt. Sie hat mir ihre Probleme
anvertraut. Ich hatte vorher schon Gerüchte über sie und ihren Stiefvater
gehört, aber nicht geglaubt daß sie den Tatsachen entsprechen. Annie war nicht
leicht zu haben.«
Mittag. Verhandlungspause. Es gilt, die
angeschlagene Annie aufzubauen. Ich habe selbst das Gefühl, einen Alptraum zu
durchleben.
Beim Mittagessen, das wir hastig
herunterschlingen, ehe die Verhandlung fortgesetzt wird, lerne ich Annies Vater
etwas besser kennen. Bei seiner Ankunft im Gerichtssaal war er mir sehr
distanziert gegenüber seiner Tochter und dem Prozeß vorgekommen. Als Annie
hinausging, hatte er kaum reagiert und ihr lediglich einige Sekunden
nachgeblickt. Die Zeugenaussagen, die ihn hätten aus der Haut fahren lassen
müssen, hatten ihn nur zu vereinzeltem bedächtigem Nicken bewegt. Wie konnte er
seine Gefühle nur derart im Zaum halten?
Erst als seine Ex-Frau im Zeugenstand
war, schien ihn das ein wenig aus der Reserve zu locken, als fühle er sich
etwas betroffener von dem Geschehen. Tatsächlich denke ich, daß es ihm bis zum
Prozeß schwergefallen ist, sich den Tatsachen zu stellen. Und ich denke, daß er
es hier im Gericht manchmal vorgezogen hätte, nichts zu hören.
»Ich hätte früher Anzeige erstatten
sollen, an Annies Stelle«, gesteht er mir. »Das war mein erster Gedanke,
nachdem sie mir alles erzählt hatte. Aber schon bald gingen mir die
verschiedensten Fragen durch den Kopf. Würde meine Tochter mir das seelische
Leid durch Ermittlungen und den Prozeß nicht hinterher übel nehmen? Ich konnte
mich nicht entschließen. Heute
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