Die Opferung
wieder in seine alte Position zurückzukehren. Schließlich musste ich die Wand freigelegt lassen. Damit blieb die Frau genauso für jedermann sichtbar wie die verschlagen aussehende Ratte. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund empfand ich beide als ausgesprochen unangenehm und irritierend, vor allem störte mich die in dem Bild angedeutete unausgesprochene Symbiose zwischen ihnen - die Implikation, dass die Frau die Ratte ebenso benötigte wie umgekehrt.
»Können wir gehen?«, drängte Danny, und ich nickte, auch wenn es mir schwer fiel, meinen Blick von der Frau zu lösen. Danny lief voraus und kletterte auf einen I laufen zerbrochener Dachziegel und Steine, um aus dem leeren gotischen Fenster zu blicken. »Von hier aus kann ich den Strand sehen«, sagte er. »Schau mal, da ist das Gartentor.«
Ich stellte mich neben ihn und stützte meine Ellbogen auf die Fensterbank. Der Ausblick war von hier aus wunderschön - die großen Bäume, die Gärten, der Weg, der langsam zur
See hin abfiel. Aus dieser großen Entfernung wirkten die Gärten bemerkenswert gepflegt. Sogar die Erdbeerbeete schienen frei von Unkraut zu sein, mit Früchten, die rot leuchteten. Der Fischteich glitzerte im morgendlichen Schein der Sonne, auf seiner Oberfläche spiegelten sich die langsam dahintreibenden Wolken.
»Da hinten ist ein Fischerboot«, rief Danny. Durch die Bäume hindurch konnte ich das rostfarbene dreieckige Segel ausmachen, während sich das Boot langsam der Küste näherte.
»Irgendwann werden wir auch mal mit einem Boot aufs Meer hinausfahren«, versprach ich ihm. »Solange du mir versprichst, dass du Schwimmen lernst.«
»Ich kann ja Schwimmflügel anziehen«, schlug er vor.
Ich sah hinüber zum Fortyfoot House. Der Verputz schien im Sonnenlicht viel heller zu sein und die Fenster schienen zu strahlen. Merkwürdig war, dass es von hier aus so wirkte, als befänden sich an jedem Fenster Gardinen, obwohl die einzigen Gardinen im gesamten Haus jene waren, die ich in Dannys und in meinem Schlafzimmer aufgehängt hatte.
Ich legte die Stirn in Falten und kniff die Augen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Von hier aus war Fortyfoot House nicht das heruntergekommene, von Feuchtigkeit gezeichnete Gebäude, das ich renovieren sollte. Von hier aus waren die Gärten nicht zugewuchert, die ich vom Unkraut befreien sollte. Von hier sah das Fortyfoot House fast aus wie neu, die Gärten waren makellos.
Es sah genauso aus wie auf der alten Fotografie des Hauses, die im Erdgeschoss im Flur hing. Fortyfoot House im Jahre 1888.
Als würde mir Eiswasser über den Rücken geschüttet, wandte ich meinen Blick ab und schaute hinüber zu den Cottages unten am Strand. Sie wirkten nicht so stark verändert, allerdings war von den Dachantennen nichts mehr zu entdecken. Ich konnte sie jetzt auch viel besser sehen, weil nicht so viele Bäume und Hecken die Sicht verdeckten.
Ich blickte nach unten auf den Friedhof; das Gras war ordendich gemäht, Geranien blühten in kreisrunden Beeten. Und es gab keine Grabsteine, nicht einen einzigen konnte ich erkennen.
»Danny«, sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter. »Wir sollten jetzt gehen.«
»Ich möchte nur noch sehen, wie das Fischerboot vor Anker geht.«
»Du kannst auch zum Strand runterlaufen und es dir von dort anschauen.«
Bevor ich hinunterklettern konnte, sah ich im Augenwinkel, dass jemand aus der Küche des Fortyfoot House kam und selbstsicher und ruhig über die sonnenbeschienene Veranda ging. Es war ein Mann in einem schwarzen Frack, er trug einen hohen schwarzen Hut. Während er ging, hielt er sein Revers fest und blickte nach rechts und links, als würde er etwas inspizieren.
Er erreichte die Mitte des Rasens und blieb stehen, verschränkte die Hände auf dem Rücken und genoss offensichtlich die leichte Brise, die von der See herüberwehte.
Während er da stand, sah ich, dass sich noch etwas anderes bewegte. In einem der oberen Fenster des Hauses entdeckte ich ein blasses Gesicht. Ich sah noch einmal genauer hin, und einen Moment lang glaubte ich, die Gesichtszüge jener Ratte wiederzuerkennen, die sich um die Schultern der Frau an der Kapellenmauer gelegt hatte.
Dann war es verschwunden, das Fenster war wieder dunkel.
»Hey!«, rief ich dem Mann auf dem Rasen zu. Falls er real war, falls ich nicht halluzinierte, dann musste er mich hören.
»Hey, Sie da!«, schrie ich. »Ja, Sie da, auf dem Rasen!«
»Wer ist denn das?«, fragte Danny.
»Siehst du ihn
Weitere Kostenlose Bücher