Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
Sieche in das Dorf geschleppt?
Plötzlich standen ihm wieder Tränen in den Augen. Hundertmal hatte er sich diese Fragen gestellt, doch er fand keine Antworten. Hemmungslos begann er zu schluchzen.
Manchmal hoffte er, dass dies alles nur ein schrecklicher Traum war und er jeden Moment aufwachen würde. Dann stünde Mutter neben ihm. Sie würde ihm zulächeln und sagen, dass eine Schüssel mit Brei am Herd auf ihn wartete. Er hieß doch Luc! Mit einer Glückshaut auf dem Kopf war er geboren worden! Das war ein Zeichen Gottes für eine verhei-ßungsvolle Zukunft! Wo war sein Glück geblieben? Warum hatte ihn das Schicksal so grausam betrogen? Ganz Lanzac hatte es betrogen.
Im Winter nach seiner Geburt war der Graf in den Wäldern Drusnas schwer verletzt worden. Ein vergifteter Dolch, so hieß es, habe ihn in den Lenden getroffen. Als er nach Lanzac zurückgekehrt war, hatte jeder damit gerechnet, dass er bald sterben würde. Ein ganzes Rudel Wundärzte war aus Aniscans gekommen, um an ihm herumzudoktern. Stück um Stück hatten sie vom Grafen abgeschnitten, um das Gift aus seinem Leib zu bannen. Luc kannte all das nur aus Geschichten, doch so lange er sich erinnern konnte, war immer wieder davon gesprochen worden. Mehr als ein Jahr war vergangen. Schließlich hatte der Graf sich erholt. Er war fett geworden, und seine Stimme hatte ganz unmännlich geklungen.
Als Luc noch kleiner gewesen war, hatte er sich immer sehr beherrschen müssen, um nicht zu grinsen, wenn der Graf gesprochen hatte. Es hatte sich einfach zu komisch angehört.
Graf Lannes de Lanzac war immer gut zu ihm gewesen. Luc wusste genau, er hatte es ihm zu verdanken, dass er nicht noch schwerer für seine Diebstähle bestraft worden war. Wenn sein Vater ihn bestraft hatte, dann war der Graf
stets zugegen gewesen und hatte streng darauf geachtet, dass es nicht zu schlimm wurde. Er hatte es auch abgelehnt, das Fenster der Honigkammer vergittern zu lassen. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, fand Luc es seltsam, dass fast nie der Sperrriegel vor den hölzernen Fensterladen gelegt war. Wie man an einer Honigrute Fliegen fängt, so hatte ihn die Honigkammer gefangen, dachte Luc. Aber warum? Was hatte der Graf damit gewollt?
Als er schon älter war, war Luc aufgefallen, wie seltsam ihn der Graf manchmal ansah. Traurig waren seine Blicke. Es hieß, früher sei er einmal ein großer Weiberheld gewesen. Nach seiner Heilung kamen keine Frauen mehr in sein Haus. Viele Stunden verbrachte er im Gebet im Tempelturm. Mit ihm würde die Linie der Lannes de Lanzac verlöschen. Das zu wissen, hatte ihn mit Trauer und verzweifelter Frömmigkeit erfüllt. Und seine Niedergeschlagenheit hatte sich mit den Jahren wie eine erstickende Decke über das Dorf gelegt.
Luc hatte diese Niedergeschlagenheit zu vermessenen Träumen ermutigt. Eines Nachts hatte er ein Gespräch seiner Eltern belauscht und gehört, wie seine Mutter sagte, dass der Graf in Luc den Sohn sehen würde, der ihm von Gott nie geschenkt worden war. Vater war daraufhin sehr wütend geworden. Er hatte geschrien und Mutter Vorhaltungen gemacht … Er hatte ihr verboten, jemals wieder darüber zu sprechen.
Am nächsten Morgen hatte Luc lange in einer Wasserschüssel sein Antlitz betrachtet. Sah er dem Grafen ähnlich? Ein kleines bisschen vielleicht? Und selbst wenn nicht, überlegte der Graf vielleicht, ihn als Sohn anzunehmen, damit es jemanden gab, der den ruhmreichen Namen Lanzac trug? Würde er eines Tages der Herr im Herrenhaus sein?
Seine Tagträume hatten sich erfüllt. Er war jetzt der Fürst
von Lanzac, denn es gab niemanden mehr, der ihm diesen Titel hätte streitig machen können. Aber um welchen Preis! War das Tjureds Strafe für seine allzu vermessenen Träume?
Als er kleiner gewesen war, hatte er sich immer gewünscht, wie sein Vater zu sein. Er hatte ihn angehimmelt. Später aber hatte er begriffen, dass Vater nur ein Diener war. Fortan hatte Luc ein Ritter werden wollen. Sie waren frei. Immer schon hatte er die Geschichten über Ritter geliebt. Wie sie das Volk vor den Anderen beschützten … Oft hatte er sich ausgemalt, wie er sich ganz allein einem Troll stellte und ihn besiegte. Und wenn er in seinen Tagträumen besonders weit gegangen war, dann war er, wie im Märchen, zum Leibritter einer wunderschönen Prinzessin geworden, die er aus tödlicher Gefahr gerettet hatte.
Luc leckte den restlichen Honig von seinem Zeigefinger. Kinderträume! Heute waren seine Träume viel düsterer.
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