Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Sonnenlichts. Ein Torbogen erhob sich vor ihnen, saugte sie ein und entließ sie ins noch dunklere Dunkel eines Gässchens. Wieder eine Kirche. Schmal drängte sie sich zwischen die Fassaden zweier Mietshäuser, verraten nur durch das bronzene Eingangsportal. Ein Obelisk, ein parkender Lieferwagen, die roten Lippen und dunklen Sonnengläser einer Frau. Alles fiel klappernd durch den Spalt seiner Augen in sein Inneres, wo es sich stapelte, ein Bild über dem anderen, in der Sparbüchse der Wahrnehmung, die nichts verlor.
Als sie längst voll war, zeigte sich ohne Vorwarnung die lichteWeite des Domplatzes. Die Kathedrale ragte mächtig empor, umflattert von den Schatten der Tauben im hohen Mittagslicht. Rechts und links vom Eingangsportal saßen zwei riesige Löwen mit steinlockiger Mähne, die aufgrund der Sanftheit ihres Augenaufschlags eher an Golden Retriever erinnerten. Marmorne Stufen, darauf gurrende, pickende Tauben und Touristen mit Stadtplänen. Tom legte die Hand auf die Mähne eines der Löwen, fühlte den kalten glatten ewigen Marmor und dachte an Marc. Warum jetzt an Marc?, fragte er sich. Weil er oft an ihn denken musste, wenn er etwas Schönes sah, und es Zeiten gegeben hatte, da er sich vorgenommen hatte, nie wieder etwas Schönes zu sehen, zu denken.
Der Tod ist leichter zu ertragen, wenn man das Leben zum Kotzen findet.
Aber es ist auch der Schmerz vergänglich, wie alles andere.
An der Pranke des Löwen klebte ein Kaugummi.
Als sie tief unten ins Dommuseum hinabgestiegen waren, in den kühlen dämmrigen Keller, wo der Gral hinter Panzerglas auf rotem Samt stand und nichts war als eine liederliche Kristallschüssel, Salatschüssel, musste Tom an den Wagner-Parzifal denken und gleichzeitig, darüber oder darunter, als wären seine Gedanken die Melodieführungen eines vielstimmigen Orchestersatzes, wieder an Marc, dessen Fehlen nur noch leise schmerzte, aber früher wie ein Loch mitten im Herzen. Und schmerzlich vermisste er diesen Schmerz und verfluchte die barmherzige, pragmatische Ärztin Zeit.
Aus dem Domkeller stiegen sie empor in die geräumige Dämmerung der Kathedrale. Er nahm Marens Hand, er wusste nicht, weshalb, und sie ließ sie ihm, einige Minuten lang, während sie in der dunklen Kühle stand und etwas erklärte, das sichum die Glasfenster drehte. Dann zog sie sie weg, lief weg, auf den Ausgang zu, öffnete die schwere gusseiserne Tür, stand für einen Moment im Licht und verschwand.
Nachdem man in der Nähe des Hafens frittierten Fisch gegessen und ein Glas Wein getrunken hatte, ging es, wie zu befürchten gewesen war, in die Museen: Zwei gigantische Renaissance-Palazzi, einer rot, einer weiß, beide vollgestopft bis in die letzten Stockwerke mit Kunst. Tom war bereits blind, als er den ersten Saal betrat. Er versenkte seinen Blick in den Fußboden, in dunkles Fischgrätparkett, das allein hätte genügt.
Vor einem Gemälde der Renaissance, das eine Frau in einem Zimmer mit einem sich in weite hügelige Landschaft öffnenden Fenster zeigte, blieben sie stehen, weil, so sagte Maren, man hier genau den Übergang, die Epochenzäsur , sehe, die ja auch ihr Thema sei. Tom hörte und nickte, während sie über die Entdeckung der Zentralperspektive sprach, die sogar ihm, dem Jazzmusiker, geläufig war. Sie aber redete mit vielen Fremdwörtern darüber, erklärte mit heller Stimme, dass fortan die Größenverhältnisse nicht länger in ihrer ontologischen Wertigkeit auf Gott hin geordnet seien, im symbolischen Verhältnis, also riesig der Gott, groß der Engel und etwas kleiner der König, winzig aber der Mensch, sondern dass, so sprach sie, nun ebendieser winzige Mensch, und zwar der Künstler , die Weltordnung neu bestimme, neu entwerfe und in das Chaosdickicht der Welt mit seiner Kunst und seiner zentralperspektivischen Ordnung eine Schneise der Bedeutung hineingeschlagen habe, mit einem Mal.
Sie räusperte sich kurz, vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, ob sie alle auch alles kapiert hätten, dann fuhr sie fort, dass dies ein Merkmal von Moderne sei, nämlich, dass sich derMensch sein Ordnungssystem selbst konstruiere und dafür keine transzendente Versicherung , sagte sie, mehr benötige. Aaaah, sagte Diedrich von unten nach oben ansteigend und nickte bedeutend.
Transzendente Versicherung, dachte aber Tom, umständlicher geht es wirklich nicht. »Du meinst, keinen Gott«, sagte er.
»So in etwa, ja.«
»Und wie kam es, dass sie plötzlich keinen Gott mehr gebrauchen
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