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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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klingelte es viermal. Dann übernahm der Anrufbeantworter, eine Frauenstimme, Betty hörte nicht, was sie sagte, der lange Pfeifton, und sie begann zu sprechen.

WEG DER SCHNECKE
    Tom Holler ist eine Schnecke, die auf die andere Seite der Bundesstraße will. Eine entschlossene Schnecke, die jemand aufhebt, in falscher Tierliebe in die Hand nimmt und zurückbringt, auf die andere Seite der Bundesstraße ins grüne saftige Gras setzt, und die Schnecke kann den ganzen Weg noch einmal machen.
    Die Schnecke Tom Holler sitzt am Flügel, starrt auf das zerbrochene Glas am Boden, dessen Inhalt sich milchig auf den frisch geputzten Dielen verteilt hat, und wundert sich, dass es gerade Betty Morgenthal gewesen ist, die ihn aufgehoben und auf die andere Seite der Straße gebracht hat. Und jetzt, denkt die Schnecke Tom Holler, muss er schon wieder putzen, obwohl er den Fußboden so sauber geputzt hat, ein letztes Mal, um ihn nie wieder putzen zu müssen, aber das Leben lebt von Wiederholungen, weshalb er wahrscheinlich wird wieder und wieder putzen müssen, was ihn auf einmal erleichtert, denn das Putzen kennt er wenigstens.
    Weil er aber keine Lust hat, sofort zu putzen, streckt er seine Hände aus und senkt sie, seit vielen Wochen zum ersten Mal, auf die Tasten hinab. Diese bewegen sich scheinbar ohne sein Zutun, produzieren eine Melodie, an die er sich nur schwach erinnert, seine Finger aber offensichtlich sehr wohl: Es ist eine Achtelbewegung in Moll, ein langsames Schreiten in beiden Händen, das er wiederholt, bis er weiß, wo es langgeht, und die Melodielinie aus dem Nichts kommt, ein leuchtendes Herbstblatt oder ein weggeworfenes Stück Papier, das von einer Windböe aufgehoben und in immer dramatischere Höhen getragen wird, ein Lied offenbar für Gesang und Klavier, ein spätromantischesStück, Schubert, nein, Schumann, und dann kommt auch der Text, »du bist vom Schlaf erstanden«, Textlücke, er summt die Melodie, was sich nicht schön anhört, und wieder rinnen Tränen über sein Gesicht, obwohl er doch nicht eigentlich weint, obwohl sein Mund nicht bebt, kein Schluchzen, nichts, nur ist da diese Nässe in seinem Gesicht, die an seinem Hals hinab in den Hemdkragen rinnt, an seiner Brust entlang, während er spielt und summt, auch singt ab und zu, wenn er in der Abstellkammer seines Gedächtnisses über eine Zeile stolpert, die zu diesem Lied gehört haben könnte, »und morgens dann ihr meinet/stets fröhlich sei sein Herz«.
    Er zieht seine Hände von den Tasten zurück, als hätte er sich die Finger verbrannt, schließt die Klappe, die hart auf dem Holz aufschlägt. Es ist ihm peinlich, er ist sich selbst peinlich, wie er am Flügel sitzt, nicht heulend, aber doch aus irgendeinem Grund mit tränenüberströmtem Gesicht, durchnässtem Hemdkragen, aber erleichtert, und doch in der Verpflichtung zu putzen, nach wie vor.
    Er hat dieses Lied mit Betty Morgenthal gespielt. »Stille Tränen« für hohe Stimme und Klavierbegleitung, er weiß es wieder, er hat es die ganze Zeit gewusst, hatte es nur zu gut versteckt in seinem Gedächtnis, wie jenen kreisrunden grünen Edelstein, den er als Kind bei einem verregneten Sommerurlaub am Strand gefunden und Jahre später nach seinem Umzug nach Berlin auf dem Unterboden des Klaviers zufällig wiederentdeckt hatte, worauf er erkannte, dass der Stein keineswegs wertvoll, sondern ein von Meeresbrandung abgeschliffenes Stück Flaschenglas war.
    Das Lied hat er in den Händen. Betty Morgenthal in seinem Kopf.
    Sie steht jetzt darin im beigefarbenen Schlaf-T-Shirt. Lehnt im Türrahmen, ein Bein angewinkelt am Türstock, Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Haar, vom Schlaf zerzaust. Kennermiene mit leicht geschürztem Mund, gehobenen Brauen, Blickrichtung auf die vergilbten Rillen der Wohnzimmertapete, in denen sich die Musik zu fangen scheint. So steht sie und verfolgt jede einzelne Note der Klavierexposition, die er sehr leise spielt, weil es frühmorgens ist und er Betty und Marc nicht wecken möchte. Es ist Sonntag. Berliner Winter vor dem Fenster, ein weißer Himmel wie heute, der pergamentartig bis auf die Konturen der Häuser hinabhängt, und seine Hände, erinnert er sich, sind gefroren, rot, tauen nur langsam auf, während er spielt und Betty ins Zimmer tritt und ihr Sopran sich in die Musik schleicht, kaum hörbar zunächst, vorsichtig, als klopfe sie an. Und dann hebt ein Kran oder Ähnliches sie langsam bis zu jenem traurigsten Höhepunkt, jenem endlosen Seufzer, auf den

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