Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
angerichtet. Es gab Wurstsalat, Aufschnitt, Essiggürkchen. Wenn er doch bloß Bescheid gesagt hätte, sagte die Mutter traurig, als sie sich wieder um den Wohnzimmertisch versammelten, selbstverständlich hätte sie gekocht, aber jeder war froh, dass sie nicht gekocht hatte, denn das Kaffeetrinken lag erst eine gute Stunde zurück. Trotzdem aß Tom, stopfte Wurstsalat und Gurken in sich hinein, aß immer mehr, um zu essen und um seiner Mutter Anlass zu geben, zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her zu laufen, Brot holend, Wurstsalat holend. Geredet wurde inzwischen über die Vorzüge der Rechenmaschine, auch der Schreibmaschine, gegenüber dem Computer. Gerhard Holler erklärte Marc, dass die Schreibmaschine ganz gewiss wiederkomme, auch die Rechenmaschine.
Die Verabschiedung war kurz, aber fürchterlich: Die Mutter weinte wie bei der Begrüßung. Der Vater, inzwischen doch ein wenig betrunken, wie Tom feststellte, war ebenfalls rührselig und klopfte ihm über längere Zeit auf die Schulter. Dann ein kurzes ungelenkes Winken auf dem Treppenabsatz, wo ein strenger Herbstwind durch die Blumen in der Blumenschale, die Frisur der Mutter wehte, die für die Beerdigung am Montag viel Haarspray brauchen würde.
Als sie die lange Hauptstraße wieder hinunter in Richtung Ortsausgang fuhren, fiel Tom eine lustige Geschichte zu den Blumenschalen ein, die in Aschberg, seinem Heimatdorf, seit Menschengedenken auf jedem Treppenabsatz vor jedem Hausstanden, ja stehen mussten. Eine Nacht lang, er war elf oder zwölf, war er zusammen mit Bernd Eichelmüller, der inzwischen im Rathaus oder bei den Stadtwerken Fulda arbeitete, durch die Hauptstraße gezogen und hatte Blumenkübel vertauscht, eine anstrengende Arbeit, dreißig fast identische Blumenkübel eine ganze Nacht lang durch die Gegend zu schleppen, treppauf, treppab. Und das Schlimme sei gewesen, sagte er lachend, dass man es zwar gemerkt, es aber nicht hinbekommen habe, die richtigen Blumenkübelverhältnisse wiederherzustellen. Tom schüttelte sich vor Lachen. Dann wurde ihm schlecht. Sowie sie das Ortsschild passierten und die weite Hochebene vor ihnen lag, bat er Marc, anzuhalten. Er musste aussteigen, er hatte zu viel gegessen. Er stolperte über die karge Wiese, schiefes Rhöngras im Wind, und übergab sich. In seinem Rachen blieb der Geschmack von Essiggürkchen.
DER SCHUMANN-MOMENT
Wann er sich in Betty Morgenthal verliebt hat, darüber hat er in späteren Jahren viel nachgedacht. Auch jetzt, im Zug nach Rom, denkt er darüber nach, während Diedrich ihm gegenüberhängt, schlafend, das Gummigesicht verbogen, an der Kopfstütze lehnend, mit offenem Mund. Durch das Fenster flackert Küstenlicht, ein Streifen Meeresrand wie Alufolie, der immer wieder zwischen Uferbebauung aufblinkt.
Dass er sich in Betty Morgenthal verliebt hat, glaubt Holler zu wissen, obwohl er es nicht definieren könnte. Sicher aber ist, dass der Liebesscheinwerfer irgendwann aufgeflammt ist, entwederurplötzlich oder aber, wie bei sanftem Stimmungswechsel im Theater, langsam auf volle Leistung fahrend. Er weiß es nicht. Er hat jahrelang spekuliert, obwohl es weder genützt noch Marc wieder lebendig gemacht hat. Die eigenen Gedanken sind ein Haufen Hühner, die ausschwärmen, wohin sie wollen, dort picken und da picken, ungehorsam, unerziehbar, und diejenigen Hollers haben sich bevorzugt alle zusammen in der Nähe Betty Morgenthals aufgehalten, wenigstens in den ersten Jahren, dann vorübergehend weniger, als Hedda Groning ihn mit ihren romantischen Vorstellungen überschüttet und aus seinem geheimnisvollen Unglück herausgeheiratet hat, wie man ein Hündchen aus dem Tierheim errettet, und erst als sie begonnen hatte, durch die eigenen romantischen Vorstellungen bis in sein eigentliches trauriges Wesen zu sehen, das keineswegs romantisch und nicht geheimnisvoll, sondern trist und auch langweilig war, als Hedda das langsam zu durchschauen begann (sie war ja nicht blind, sondern anfangs nur verknallt), hatte er wieder mehr an Morgenthal denken müssen und an die nie geklärte, darüber hinaus sinnlose Frage, wann er sich in sie verliebt hat.
Jedoch hat er einen Verdacht. Es gibt mehrere Verdachtsmomente. Und ganz oben auf der Verdachtsliste steht Schumann. Gleich darunter Schubert. Aus irgendeinem Grund haben sie angefangen, Schubert und Schumann zu spielen. Es hatte sich ergeben, wahrscheinlich aus Langeweile, wie das meiste im Leben.
An jenem Tag hatte er bei Nicki übernachtet, mit der
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