Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
analysiert hat – in Nickis Fall ein Blaugrau zwischen Heidelbeere und Taube – und langsam wieder zur Tagesordnung übergeht, weniger erstaunt, aber immerhin noch verliebt.
Trotzdem erinnert er sich an diesen fast schmerzhaften Schumann-Moment, dem einige ähnliche folgten. Es war, als wären sie gezwungen gewesen, einander unausgesetzt in die Augen zu sehen, während sie diese Lieder spielten. Oder gemeinsam auf einem zu schmalen Handtuch im Freibad zu liegen. Jemandem Feuer anzubieten und aufgrund von Wind die Hände um diejenigen des andern legen zu müssen und sich dabei aus Versehen etwas länger als notwendig zu berühren. Wenn sie beispielsweise nach einer dynamischen Steigerung zum Fortissimo langsam in ein leises Ritardando hinabschritten, so ineinander verschmolzen, dass sich jedes Atmen, jede kleinste Verzögerung sofort auf den andern übertrug.
Aber Holler kann niemandem die Schuld geben, nicht Schumann, nicht Schubert, auch nicht Hugo Wolf oder RichardStrauss, nicht den »Vier letzten Liedern«, auch nicht Mahler und den »Kindertotenliedern«, und nicht Marc, der ihnen immer mehr Noten anbrachte und selber viel komponierte in jenen Tagen, offensichtlich inspiriert, der deshalb tagelang fehlte, zwar mit ihnen Kaffee trank, aber kaum ansprechbar, sondern mit einer Glaskugel um den Kopf anwesend, aber nicht wirklich erreichbar war. Nur für Momente, in denen er Betty küsste, als erinnerte er sich plötzlich an sie, zerbrach die durchsichtige Hülle, wenn er sie dann lange betrachtete oder Tom, seinem Freund, den Arm um die Schulter legte und vielleicht einen Witz machte.
CHÄÄSMUSIK
Im Sommer desselben Jahres kamen sie in den zweifelhaften Genuss, zusammen mit Diedrich von Jagow, genannt Didi, eine Mucke, wie man sagte, zu spielen, die dieser aufgetan hatte, und weil sich seine bayerischen Verwandten, der Inhaber einer mittelständischen Schraubenfabrik und Gattin, für die Taufe ihres Enkelkinds ein Saxofontrio, »aber bitte mit Gesang«, vorstellten, hatte der hochwohlgeborene Holzbläser den Pianisten Holler und die Sopranistin Morgenthal hinzugebeten. Es gab 400 DM für jeden, plus Fahrtkosten und Übernachtung. Sie spielten abgeschmackte Jazzstandards, ganz so, dass es zur Taufgesellschaft passte und dass es die Gastgeber »ganz wunderbar« fanden. Die Gastgeber standen auf dem frisch gesprengten Rasen herum mit ihren bayerischen Trachten-Loden-Kombinationen und mit ihren Champagnergläsern in der Hand und schwenkten zu der »ganz wunderbaren« Jazzmusik (gesprochen »Chääsmusik«) die Hüften und unterhielten sich gut, währendjede zweite Minute irgendein adliger Pate oder ein schwerindustrieller Onkel oder eine in der Lokalpolitik tätige Tante der singenden Betty mitten im Lied das Mikrofon aus der Hand riss, um eine verbissen witzige oder auch augenzwinkernd nachdenkliche Rede zu halten.
In einer ihrer Setpausen gingen sie hinunter zum familieneigenen See, über dessen glattes Wasser Schwäne schwebten und an dessen Ufer ein kleiner weißer Pavillon stand, in welchem Diedrich seine Musikerkollegen kichernd über die besonderen Umstände dieser Taufe aufklärte: Der Kindsvater, ein Dr. Korbinian von Schwendt, Unternehmensberater und erfolgreich im In- und Ausland, betrog seine Frau, Diedrichs Großcousine, ja schon seit langem. Noch bevor sie vor zwei Jahren geheiratet hatten, hatte er sie alle zwei Tage mit irgendeiner Sekretärin oder Key-Managerin oder Sales-Account-Direktorin hintergangen, was Diedrich zufällig wusste, was allerdings jetzt, nach der Geburt des Kindes, leider auch die betrogene Mutter und Ehefrau Friederike herausgefunden hatte. Deshalb war es vor ein paar Wochen zu einem unschönen Eklat gekommen, und Diedrichs Cousine verlangte, nachdem sie wohl einen beträchtlichen Teil des Familienporzellans an verschiedenen Wänden zerhauen hatte, die Scheidung. Diedrich kicherte, als er es erzählte, auch Tom hatte kichern müssen, während er auf den ruhigen See hinausschaute und in großen Schlucken Champagner trank, den sie in vielen hohen Gläsern auf einem Tablett gehortet hatten.
»Und diese Scheißtaufe«, hatte Diedrich gerufen, glucksend, »findet jetzt trotzdem statt«, er klopfte sich auf die Schenkel, »auf den Termin genau, als wäre nichts gewesen.«
Sie lachten, obgleich es eigentlich nicht lustig, sondern traurig war, wie die junge Mutter mit ihrer Sonnenbrille vor denverheulten Augen in ihrem Designer-Dirndl den ganzen Nachmittag auf hochhackigen, sicher
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