Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
schattigen Schnee stehen, überragt links und rechts von den weißen Wänden. Sie gehen minutenlang schweigend. Das Rascheln des Tauwassers, ihre Schritte, ihr Atmen sind die einzigen Geräusche. Die Natur schließt sich um sie und verdichtet sich zu einem Gemäuer.
»Was möchtest du stattdessen tun?«, fragt Tom. Marc setzt seine Sonnenbrille auf.
»Das ist es doch, warum wir Musik machen«, fährt Tom fort, »damit wir mit allem möglichst wenig zu tun haben, weil ohnehin alles seinen Gang geht. Vor uns gab es Generationen von Menschen, nach uns wird es Generationen von Menschen geben, sie werden sich fortpflanzen, sie werden sterben und so weiter, werden versuchen, immer ein bisschen mehr über dieses Universum herauszukriegen, aber sie werden es wahrscheinlich immer nur besser beschreiben können, wie man eine Sinfonie beschreiben kann oder ein Gemälde, aber sie werden nie sagen können, warum es so ist. Das weiß niemand. Nur der, der es gemacht hat. Und weil es niemanden gibt, der es gemacht hat und wir leider die intelligentesten Wesen in diesem Universum sind, so wie’s aussieht, werden wir es nie erfahren.«
»Lebst du gern?«, sagt plötzlich Marc, indem er Tom das letzte Wort abschneidet.
»Wenn ich nicht grade auf einen Gletscher muss …«, sagt Tom lustig. Aber Marc lacht nicht.
»Wir wissen ja gar nicht, wie es wäre, wenn wir nicht da wären«, fügt Tom hinzu. »Außerdem sind wir nicht gefragt worden.«
»Bei einem Schulausflug wird man auch nicht gefragt.«
»Bitte?«
»Ob man mitwill oder nicht. Es ist ein Schulausflug vom Nichtsein ins Sein.«
Tom denkt an die Schulausflüge, an die er sich noch erinnern kann und die er allesamt furchtbar fand, möchte etwas erwidern, aber Marc redet schon weiter. »Wie möchtest du sterben?«, fragt Marc, als hätte er irgendwo eine Frageliste auf einem DIN-A4-Zettel, die er abarbeiten müsste.
»Umfallen und tot sein. Am Klavier am besten oder am Tresen«, sagt Tom.
»Nein«, Marc schüttelt lange den Kopf. »Das ist grauenhaft. Ich wünsche mir eine lange Krankheit, jeden Tag ein bisschen mehr über das Leben zu erfahren, das in meinem Körper verschwindet. Je weniger es wird, desto durchsichtiger wird es. Vielleicht begreift man es dann irgendwann.«
»Ich glaub nicht«, sagt Tom. »Vielleicht gibt es nichts zu begreifen.«
»Vielleicht doch. Man müsste von hinten nach vorn leben können«, sagt Marc. »Rückwärts. Man wüsste von Anfang an alles, um dann, je älter, ich meine, je jünger man würde, das Ganze wieder zu vergessen.«
»Und irgendwann, nach dreißig Jahren, seine Eltern kennenlernen.«
»Ja, warum nicht. Vielleicht würde man sie ganz anders kennenlernen.«
»Man würde zu Tode erschrecken.«
Abrupt, als stieße er an eine Glaswand, bleibt Marc stehen. Tom, der nach einigen Metern ebenfalls innehält, dreht sich um. Marc steht einige Schritte unter ihm, wieder ohne Sonnenbrille, blickt zu ihm herauf, in sein Gesicht, normalerweise ist es umgekehrt, vielleicht liegt es an der veränderten Perspektive,denkt Tom, dass Marc so verwundert aussieht, als entdecke er etwas zum ersten Mal in seinem Gesicht, ein Muttermal, eine Narbe, irgendetwas, oder als suche er etwas, das früher einmal da gewesen ist. (Vielleicht ist es aber nur sein eigenes schlechtes Gewissen, sagt sich Tom, weil er schon wieder an Morgenthal gedacht hat.)
Sie gehen weiter. Marc spricht wieder, als wäre nichts gewesen. Sagt, dass ein plötzlicher Tod ihm vorkomme wie das Lesen eines spannenden Buches, aus dem jemand die letzten Seiten herausgerissen hat. Man müsse doch aber stattdessen die Dinge beenden wie eine Partitur, beispielsweise.
»Eine Partitur«, entgegnet Tom, »ist ja auch eine Partitur und kein Leben, eine Partitur enthält ja eine gewisse Logik, das Leben nicht, behaupte ich.«
»Behauptest du «, sagt Marc, seine Sprache ist kalt und glänzend, schneidet die Luft entzwei. »Was für eine Arroganz«, sagt er, »wie kannst du behaupten, etwas existiert nicht, nur weil du es nicht weißt. Warum behauptest du nicht, die Krümmung der Zeit existiert nicht, denn auch davon weißt du ja nichts!?«
Tom kann sich nicht erinnern, dass Marc jemals in dieser Schärfe zu ihm gesprochen hat. Die Höhenluft, meint er irgendwo gelesen zu haben, macht reizbar. Der Himmel hat sich inzwischen verdickt, schwefelgelb. Vor ihnen leuchtet noch immer das Sonnenfeld, schmaler jetzt, aber warm und verlockend. Angesichts dieser eisiggoldenen Ewigkeit ignoriert er
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