Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
immer nur geradeaus geht und bergab.
Glücklicherweise geht es geradeaus, denn sehen kann Tom nicht viel außer kaltem Weiß, das beim Atmen in seinen Mund drängt. Erst auf der Zunge schmilzt es. Trotzdem wird Marc längst unten auf ihn warten, mit spöttischem Lächeln, weil er letztlich immer ein spöttisches Lächeln für ihn parat hatte. Weil er nicht nur schneller und zielstrebiger und sportlicher ist, weil er auch immer alles besser weiß, alles besser kann. Die Musik, wie das Leben im Allgemeinen. Wenn Tom eine ganze Stunde über der Auflösung eines Akkordes brütet, am Klavier, so schreibt ihn Marc innerhalb einer Sekunde aufs Papier. Wenn Tom eine Idee hat, so ist es mit Sicherheit eine, die Marc schon hundertmal verworfen hat.
»Wo warst du denn so lange?«, wird er fragen mit Eisverkäuferlächeln. Und Tom wird antworten, ruhig und beherrscht und freundlich, indem er ein paar Worte an ihn richten wird, die er mit »Lieber Marc« einleiten will. »Lieber Marc«, wird er mit gespielter Überlegenheit zu Marc sagen, und dass er spazieren gegangen sei im Schneegestöber, weil er gerne spazieren gehe. Und dass Marc sich bitte nicht so anstellen möge, wegen des Lebens. Keinem ergehe es anders, nur einige Leute stellten sich einfachmehr an als andere, und er wird hinzufügen, dass immerhin schon seit Anbeginn des Lebens auf der Erde gelebt und gestorben werde, und nur wo gestorben werde, dort werde auch gelebt. Wir sind eben da, wird er fortfahren, und demnach müssen wir uns damit abfinden, wie alle anderen auch. Es betrifft ja nicht nur uns, sondern unter selbigem litten gleichermaßen John Lennon und Herr Mozart, Homer und Glenn Gould, und die Hauswirtin unten mit dem rosaroten Putzlappen betreffe es auch. Überhaupt sei dieser Tod wirklich ein alter Hut. Und dass es keine Begründung für nichts gebe, wird er nach einer kurzen wirkungsvollen Pause neu ansetzen, das Fehlen irgendeiner Begründung, wird er langsam und gemessen sagen, sei ebenfalls ein alter Hut. Übrigens gehe es auch ohne Begründung. Das Leben sei eben kein Bürokratenamt, in dem für alles und jedes ein Begründungszettel ausgefüllt werden müsse. Das Leben sei eben ebenso sinnlos wie die Musik. Unsinnig, scheißunnötig, aber liebenswert.
Er stolpert über die eigenen Füße, sein Kopf schlägt auf Schnee, es ist ja egal, denkt er, während er liegt, egal, ob ich mich vertikal oder horizontal aufhalte, oben und unten ist gleich, alles weiß, alles nichts. Er schließt die Augen. Nur für einen Moment. Das Sausen des Sturms scheint leiser zu werden, es verebbt, von fern meint er Vogelzwitschern zu hören, das sich darüberlegt, es ist Mai, erinnert er sich, Frühling, das Gezwitscher schwillt an, ein blechernes Lärmen, und Grillen zirpen herauf vom italienischen See, wärmer wird es, er zieht sich eine Daunendecke aus Sonnenschein bis ans Kinn.
Und überhaupt, wird er zu Marc sagen, niemand gehört jemandem. Und Betty, die Bernsteinfarbene, auch nicht. Und wie sie da gegenwärtig in ihrem Schneedaunenbett schwebt und mitden Augendeckeln klappert wie eine Porzellanpuppe, sich dann auf den Rücken dreht, nur den Oberkörper, und die Beine bleiben seitlich liegen, und Dinge spricht mit halb geschlossenen Augen, dass es Liebe nicht gebe, nur die Einbildung von einer Liebe, wie es die Einbildung gibt eines Regenbogens, obgleich nur wir es sind, die Augen haben mit Zapfen und Stäbchen und Millionen von Ganglien, die meinen, den Regenbogen zu sehen, macht euch also keine Sorgen, meine Jungs, spricht sie und klappert mit den Lidern und gähnt. Und plötzlich, sieht Tom erschrocken, während sie spricht und gähnt, schmilzt der Schnee unter ihr, verrinnt zu klarem Wasser, sie treibt auf dem Rücken, das Haar schwebt um ihren Kopf, und ihre Lippen sind blassviolett, ihr Gesicht wie gepudert, während der ganze Körper wie ein Boot über die glitzernde Wasserfläche gleitet.
»Nein!« Offenbar hat jemand gerufen. Die Kälte brennt auf seinem Gesicht. Er öffnet die Augen, spürt, wie die Schneeflocken auf seinen Pupillen landen. Geradewegs und abwärts schneit es, wie es sich gehört. Tom setzt sich auf, sein Oberkörper schnellt in die Vertikale, wo er eine Parallele zu den Schneeflocken bildet. »So gehört es sich«, murmelt er und steht auf, während er bemerkt, wie sehr er friert. Seine Lippen, die sich kaum mehr bewegen lassen, scheinen etwa zehn Zentimeter von ihm entfernt in der Luft zu schweben.
Zwischen dem fallenden Schnee wird
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