Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Marcs aggressiven Ton. Ihre Schritte haben sich wieder beschleunigt, Schnee knirscht unter ihren Turnschuhen, und sie stolpern nun häufiger, weil das Gelände steiler, der Untergrund harschiger wird, oder sind es die Beine, die ermüden?
»Während der Saison fahren sie hier Ski!«, keucht Tom, umetwas zu reden. Aber Marc bleibt erneut stehen mit schiefem Kopf, als könne er nicht einsehen, dass jemand über Skifahren auch nur reden will in dieser Stille. Erste Schneeflocken fallen. Marcs Gesicht ist über den Wangenknochen gerötet, die Haut scheint gespannt, die Kiefermuskeln treten hervor, auch die Nase scheint zu wachsen. Er öffnet den Mund, schließt ihn wieder, als hätte er es sich anders überlegt, und stapft weiter. Tom friert längst nicht mehr, sondern schwitzt, spürt den Schweiß und die Schneeflocken, die wie feine Stiche auf seinem Gesicht landen.
»Wie kann man immerzu behaupten, man wüsste alles, wo man in Wahrheit nichts weiß und alles, was man weiß, immer auch umgekehrt sein kann? Jedes Mal, wenn wir den Mund aufmachen, kommt eine Lüge heraus, weil wir genauso gut das Gegenteil behaupten könnten«, sagt Marc. »Wenn wir sagen, wir wollen Musik machen, dann wollen wir eigentlich Holzschränke bauen. Wenn wir sagen, wir lieben die Natur, dann lieben wir den Menschen. Wenn wir sagen, wir lieben den Geist, dann lieben wir das Gefühl. Eine Minute lieben wir den Menschen, in der nächsten Minute hassen wir ihn. Eine Minute halten wir ihn für einen Philosophen, Religionsstifter, für den, der sich das ganze Zeug ausgedacht hat, alles, was wir immer bewundert haben, und in der nächsten Minute sitzt er mit Jogginghose vor dem Fernseher und rechnet seinen Rentenanspruch aus. Einmal denken wir an Liebe, meinen aber die Angst vor der Einsamkeit. Dann denken wir, wir brauchen die Einsamkeit, wir sollten unser Leben auf einem Stein zubringen und die Sterne betrachten, dann wieder denken wir, es geht darum, möglichst viel Bier zu trinken und Frauen zu haben und laute Musik. Einmal lieben wir das Leben, weil es alles ist, was wir haben, und in derselbenSekunde hassen wir es genau dafür.« Marc schnappt nach Luft.
Tom zieht es vor zu schweigen. Dann sagt er doch noch etwas: »Wir müssen es eben aushalten.« Marc, der den Faden verloren zu haben scheint, sieht ihn lange an. »Wo wir mal hier sind, auf dem Schulausflug sind, unsere belegten Brote essen und so weiter, und irgendwann sind wir wieder daheim.« Aber Marc antwortet nur mit einem eigenartigen Blitzen der Augen, als hätte er schon wieder etwas Falsches gesagt.
Der Schneefall hat sich verdichtet, aber der Himmel ist noch immer unwirklich angeleuchtet wie Flammenrauch. Auch die Flocken, die kaum mehr als solche einzeln wahrnehmbar sind, sondern als wehender Vorhang erscheinen, glitzern in einem ominösen Sonnenlicht, das plötzlich von einer Sekunde auf die andere abbricht. Das Weiß verdunkelt sich. Die Gipfel vor ihnen sinken in stumpfes Grau, um etwas später noch einmal plötzlich aufzuflammen und wieder zu verlöschen. Als richteten sie dort oben einen Scheinwerfer ein, denkt Tom. Der Wind bläst vom Hang herab und hebt den Vorhang der Flocken in die Schräge, übertönt das ständige Rauschen unter ihren Füßen, auch das Knirschen ihrer Schritte. Tom weiß nicht, warum sie weitergehen, wo sie kein Ziel mehr haben. »Es schneit«, sagt er.
»Warum sagst du mir nichts?«, fragt Marc. »Betty hat mir doch alles erzählt.« Die Berge verschwinden, die Erde wird zur Scheibe, weiß, rund, leer. So liegt sie zu Toms Füßen. Eine Sekunde später steht alles wieder da, hinter dem Weichzeichner des Schnees.
»Was meinst du?«, ruft Tom. Der Wind reißt seine Stimme von ihm weg, als gehöre sie nicht zu ihm.
»Du weißt, was ich meine«, Marcs Sprache klingt gedämpft, wie von hinter einer Wand. Plötzlich merkt Tom, der sich die Lippen leckt, dass sein Mund eiskalt ist, feucht. Seine Beine knicken weg, aber er läuft weiter, mit fremden Beinen scheinbar. Und es hebt sich der Boden vor ihren Augen, steigt in weißen Wirbeln in die Luft.
»Du hättest es mir ruhig sagen können«, ruft Marc, aber seine Stimme ist fröhlich. »Ich werde es schon überleben«, ruft er. »Pianisten gibt es wie Sand am Meer, und ein Kreuzfahrtschiff ist natürlich eine einmalige Gelegenheit.«
Tom schließt die Augen, hat den Eindruck, zu taumeln. »Lass uns zurückgehen, dann erklär’ ich dir alles.«
Aber Marc schüttelt den Kopf. »Du brauchst mir nichts
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