Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Tom. Er friert.
»Hast richtig auf dem Fußboden gekniet neben deinem Bettchen, Hände aneinandergelegt und stundenlang nachts gebetet?«, will Marc wissen, offenbar amüsiert.
»Eine Zeitlang, ja«, gibt Tom zu, leicht verärgert.
»Und warum hast du es aufgegeben?«
Tom zuckt die Schultern. »Es hat sich aufgelöst.« Er muss wieder an die Liebe denken.
»Sind nicht alle Kinder religiös?«, fragt Marc nach einer Pause, in der ihre Schritte auf dem Kies, ihr Atmen die einzigen Geräusche gewesen sind.
»Weiß nicht«, sagt Tom.
Aber Marc weiß es. »Doch«, sagt er und beschleunigt den Schritt, »jeder ist religiös, der an die Unendlichkeit glaubt.«
»Also auch ein Hund?«
»Auch ein Hund, klar. Und alle, die jemanden verloren haben. Mindestens für zwei Wochen.«
»Du also auch«, keucht Tom, der kaum hinterherkommt, weil Marc immer schneller geht, da die Gletscherkante fast erreicht ist.
»Wie soll man es auch aushalten?«, fährt Marc fort, als hätte er seine Frage überhört. Er spricht sehr laut jetzt, möchte gestikulieren, hat aber die Hände in den Taschen, wippt also mit den Schultern, »du hast etwas verloren, es ist weg, etwas sehr Wichtiges, eine Komposition vielleicht oder ein Kind, auf das du aufpassen solltest, du verlierst es im Einkaufszentrum, da gehst du doch nicht nach Hause, bevor du es gefunden hast, oder gehst du nach Hause und sagst, Entschuldigung, ich habe halt das Kind verloren, es ist halt leider weg? Nein. Also sagen uns unsere Neurotransmitter, dass es hinter unserer Wahrnehmung noch einen Ort geben muss, wo sie sitzen und Spaß haben, den ganzen Tag Kuchen fressen oder als rosa Wolken ums Universum kreisen, aus reiner Selbsterhaltung, weil man sich ansonsten totsuchen würde.«
Jetzt lacht Tom, obwohl er Mühe hat zu folgen, weil Marc einen halben Meter vor ihm geht und der Wind seine Worte zerstreut. Er lacht, obwohl ihm alles etwas unheimlich vorkommt. Marc Baldur erklärt die Welt.
Wenn er nur umgekehrt ihm ein paar Dinge erklären könnte, denkt Tom, er würde ihm gern alles erklären. Es muss eine Möglichkeit geben. Tom kann hier in eine kleine Eishöhle ziehen, beispielsweise, bis er sich abgekühlt hat, und Marc kommt und wird ihm Essen vorbeibringen. Und ein- oder zweimal kommt auch Betty.
»Der andere Religionsquatsch ist natürlich das Müssen«, setzt Marc seinen Vortrag fort. »Es gibt ja zigtausend Möglichkeiten zu müssen: putzen, Blumen gießen, arbeiten, Kinder, Schnürsenkelbinden, kaufen. Je mehr man muss, desto weniger kommt man zum Denken«, sagt Marc am Fuß des Gletschers, und die stumme Natur einschließlich Tom hört zu. »Das grelle Licht der Erkenntnis«, skandiert er und imitiert damit Breitenbach, »welches das Nichts offenbar werden lässt, die Verzweiflung!« Er bricht ab, lacht durch die Nase. »Um sich vor der Verzweiflung zu schützen, hat der Mensch das Müssen erfunden, schätze ich. Nämlich das Müssen ist die Sonnenbrille, die uns vorm Denken schützt. Aber das ist doch Quatsch, alles, oder?«, fragt er, ohne jedoch eine Antwort zu erwarten. »Wenn ich jetzt denke, ich muss mich am Kinn kratzen, dann werde ich das schon in zehn Minuten vergessen haben. Wenn wir denken, hey, wir müssen den Auspuff reparieren, dann haben wir das in einer Woche vergessen. Wenn wir morgen unbedingt das Bad putzen müssen, können wir uns schon übermorgen nicht mehr dran erinnern. Ach, das blöde Bad …, sagen wir und winken ab. Und wenn ich jetzt denke, dass ich irgendeine Komposition abgeben muss, dann werde ich in spätestens fünf Jahren nichts mehr davon wissen, und in hundert Jahren? Ach, der Auspuff, sagen wir müde, ach, die Mathearbeit, und winken ab, ach, das Abitur, ach, das Studium, ach, das Leben!« Marc lächelt. Tom fühlt sich unwohl, einsam und klein. »So, so«, sagt Marc, nun in seine Richtung. »Der Gletscher.«
Da stehen sie und schweigen. Das Weltall beginnt direkt vor ihren Füßen. Sie sind das Einzige, was lebt hier, und ein Vogel hoch über ihnen, der seine dunklen Kreise in den Himmel ritzt.
»Und bei alldem«, sagt Marc, als hätte er angesichts des Gletschers nur kurz den Faden verloren, »sind wir ja auch nicht besser.«
»Wer wir?«
»Du und ich.«
»Aha.«
»Wir wollen halt nicht erwachsen werden«, sagt er und steht breitbeinig.
»Gehen wir zurück?« Tom wird ungeduldig. Aber Marc sieht ihn erstaunt an, lange und nachdenklich. Stählerne Freundlichkeit liegt auf seinem Gesicht wie ein Ritterhelm. »Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher