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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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war. Es war ihm plötzlich wieder eingefallen.
    Lisa Baldur, die ihren Blick die ganze Zeit auf Toms Augen gelegt hatte, als wären sie es, die die Geschichte erzählten, stand plötzlich auf und wandte sich zum Fenster. Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihm, öffnete und schloss ihren Mund, strich sich dann eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich gar nicht dort befand.
    »Hat er das so gesagt?«
    In diesem Moment begriff Tom, dass Lisa ihn nur hier duldete, weil er ihr diese Geschichte erzählen konnte, nicht er war es, den sie hier an ihrem Küchentisch sitzen ließ, sondern seine Stimme. »Nicht direkt«, sagte diese, irgendwo vor ihm im Raum. »Er sagte, dass er an einer langen Krankheit sterben möchte, dass er am liebsten viel Zeit hätte, um Sachen zu begreifen.«
    Lisa Baldurs Kopf wackelte. Sie wirkte plötzlich sehr alt. Tom konnte nicht erkennen, ob sie den Kopf schüttelte oder ob er aus anderen Gründen wackelte.
    »Sein Vater ist nicht an der Krankheit gestorben«, sagte sie langsam, nachdem sie ihren Kopf zurückgeworfen und dann gerade aufgestellt hatte. Es war, als könne er jeden Moment von ihren Schultern kippen.
    »Es war ein Autounfall. Marc hat es ihm nie verziehen. Er wollte es wohl auch nicht wahrhaben. Es …«, sie sah geradeaus, aber ihr Blick schien irgendwo reflektiert zu werden und in sie selbst hinabzutauchen. »Es war Selbstmord.« Sie stand in der Mitte des Raums, der sich um sie her zu weiten begann, Wände, Decke und Fußboden wichen von ihr zurück. Langsam drehte sie sich um, plötzlich zur Greisin gesunken, und ging hinaus.
    »Hast du das gewusst?« Tom sah Bettys Umriss im Glanz der Fensterscheibe, so unwirklich und so fern. Sie schüttelte den Kopf. Sie sprach nicht, seit Tagen nicht mit ihm. Er hob seine Hand vom Tisch auf, sie war schwer, zog seinen Arm hinab, seine Schulter, sein ganzer Oberkörper wollte auf die Tischplatte sinken, alles schien für einen kurzen Moment miteinander verbunden zu sein, aber er blieb aufrecht und hob seine Hand an Bettys Wange. Erstaunt über ihre Wärme, über den Puls in ihrer Schläfe. Über die Weichheit ihres Haars. Also lebt sie. Aber was genau ist das, leben , sag es mir, wollte er sagen, doch er konnte es nicht.
    Am Tag der Beerdigung brach das Sonnenlicht durch die Fensterscheiben und flutete die Mühle mit schonungsloser Helligkeit. Lisa Baldur, die Greisin, deren Kopf weiter auf die Schultern hinabgesunken war in der Nacht, trug eine Sonnenbrille. Sie hatte Kaffee gekocht. Aber sie trank ihn nicht. Nur Tom trank Kaffee, während Lisa und Betty stumm am Tisch saßen und nicht einmal atmeten. Niemand schreckte auf, inder Annahme, Marc käme herein, niemand hörte vertraute, jedoch nichtexistente Schrittgeräusche, wie es oft berichtet wird, nein, es ist ein Wunder, dachte Tom, wie schnell man sich an den Tod gewöhnt. Stattdessen surrten irgendwann Autos ins Tal hinab, Menschen stiegen aus, betraten das Haus, allesamt lebendig.
    Marc, im Sarg liegend, wo er von nun an immer liegen würde, was Tom unglaublich vorkam – dass wir uns am weitaus längsten in einem Möbelstück aufhalten, das wir uns nicht selber ausgesucht haben –, trug seine Bühnenklamotten. Betty und Lisa hatten lange überlegt und sie aus Marcs Reisetasche entnommen, sie gewaschen, gebügelt und gefaltet und dem Totengräber übergeben. Tom blickte in das hölzerne Möbelstück hinein, das nach frischem Kiefernholz roch. (Nie mehr würde er den Geruch von Kiefernholz ertragen können, dachte er.) Aber unwahrscheinlicher noch als der tote Körper, der nicht Marc war, erschien ihm sein eigener lebendiger Körper, der nicht Tom war. Erstaunt betrachtete er seine Hand, die sich unaufhörlich bewegte und doch dieselbe Hand war, die einmal eine von wem auch immer in die andere gefaltete Leichenhand sein würde. Er betrachtete seine Beine, zukünftige Leichenbeine, die durch feinste Bewegungen seiner Muskeln den Stoff der Hose vibrieren ließen. Auch er trug die Auftrittsklamotten, die sie, wie er sich erinnerte, an einem Regennachmittag zusammen gekauft hatten. »Nehmen wir was Gescheites«, hatte Marc gesagt, »kein H&M, die müssen schon ein bisschen länger halten.« Wie lange würden sie noch halten, unter der Erde?
    Seine lebendigen Hände spielten, wie es von Lisa gewünscht worden war, auf der alten Kirchenorgel Bachstücke. Die Pfarrerstimme hallte durch das Kirchenschiff, und es nützte ja nichts,die Pfarrerstimme hassen zu wollen, die mit polnischem Akzent

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