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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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schneidet die Landschaft in zwei Hälften. Das leuchtende Weiß der Mittelstreifen ist ein Blitzlicht, das in schnellem Takt aufflackert.
    »Ja«, sagt Tom und wundert sich, dass sie nichts fragt, nichts wissen will.
    Er legt seinen Blick auf sie, auf ihre Wange, aber er kann sich nicht halten, rutscht hinab. Selbst die Blässe ihrer Haut blendet.
    »Wir müssen tanken«, sagt Tom. Er flüstert, weil jedes Geräuschzu laut ist. Er wiederholt den Satz, und es erscheint ihm wie ein Wunder, dass dies nach wie vor seine Stimme sein soll. Dass sich nichts verändert haben soll. Selbe Sonne, selbe Stimme, selbe Hand. »Wir müssen tanken«, flüstert er, denn auch heute frisst das Auto Benzin und auch morgen und übermorgen.
    Betty setzt den Blinker, und über der Allee, die sich in sanftem Bogen durch grünes Land schwingt, liegt der blaue Himmel. Ein gelbes Schild rast an Toms Fenster vorüber. Der Motor heult auf, und Betty verfestigt den Griff ums Lenkrad, die Haut ihrer Handrücken spannt sich über den Knöcheln. Ihre Arme zittern. Das Auto röhrt, es ist der Auspuff, natürlich, Marc hatte recht, und der Motor wird immer hysterischer, Bettys rechter Oberschenkel drückt sich tief in den Sitz hinab, ihre Kiefermuskeln treten hervor, und das Auto beschleunigt bis zum Überdrehen, dann schaltet sie, reißt den Knüppel in den nächsten Gang, vermindert aber nur für eine Sekunde den Druck ihres Fußes auf dem Gaspedal, die Wiesen im Hintergrund erheben sich, ziehen sich zu Streifen zusammen, die Bäume verlassen den Boden, einer nach dem anderen, aber einer bleibt stehen, stürzt auf sie zu, Toms Wirbelsäule presst sich tief in den Sitz hinein, es ist ein angenehmes Gefühl, denkt er, so eindeutig den Fliehkräften ausgeliefert zu sein, von denen er keine Ahnung hat, die aber existieren. Sicherheit. Gleich heben sie ab, er schließt die Augen, erwartet den Aufprall. Im selben Moment fliegt er nach vorn, ein reißender Schmerz stoppt seinen Oberkörper, seine Stirn knallt ans Armaturenbrett, und das Quietschen der Reifen hallt noch sekundenlang in seinen Ohren nach.
    Qualm steigt aus der Kühlerhaube. Die Stille, die jetzt von draußen in den Innenraum des Wagens dringt, ist immens.Betty sitzt sehr gerade, wie eine Puppe. Ihr Gesicht ist bewegungslos, nur ein Streifen Flüssigkeit rinnt über ihre Wange herab, übers Kinn, über den Hals, in den Rollkragen ihres Pullovers, aber es scheint keine Träne zu sein, einfach Wasser, das aus ihrem Auge entweicht. Sie wischt es nicht weg, sie schnieft nicht. Sie möchte nur, dass Tom fortan weiterfährt. Sie wechseln die Plätze, und als er um das Auto herumgeht, wundert er sich über die Frühlingswärme, die über seinen Nacken streicht, über den Geruch der gemähten Wiese, über einen Marienkäfer, dessen gespreizte Flügel dicht an seinem Gesicht vorbeisurren. Er bleibt stehen, versucht, etwas festzuhalten, zu begreifen, das unmittelbar vor ihm in der Luft zu liegen scheint, aber es gelingt ihm nicht. Die Erde ist aus ihrer Achse gekippt, und niemand hat es gemerkt. Sie müssen tanken.

BESUCHEN SIE MICH EINMAL
    Zwei Tage lang gingen Betty und Lisa durchs Haus, erledigten Dinge, telefonierten mit dem Totengräber, mit der Polizei, mit dem Pfarrer der Gemeinde. Ihre Körper wurden von diesen Aufgaben wie durch ein Korsett aufrecht gehalten, drohten dann, als alles erledigt war, sich aufzulösen. Tom, der tagsüber vor allem damit beschäftigt gewesen war, den Frauen in ihrer Geschäftigkeit auszuweichen, ihnen nicht im Weg zu stehen, hatte Lisa abends wieder und wieder den Hergang der Dinge schildern müssen, so als brauche man nur den einen Wendepunkt zu finden, um von da an die ganze Geschichte neu zu erfinden. Betty saß mit abgewandtem Gesicht, blickte auf die dunkle Fensterscheibe oder auf die Wand daneben. Tom erzähltemechanisch, wobei er jedes Mal ein neues Detail aus der Geschichte heraushob, er spulte diese Geschichte herunter wie auswendig gelernt, wie ein Märchen, das wahr ist, weil existent, aber trotzdem niemals geschehen. Seine Stimme, die das Märchen erzählte, gehörte nicht zu ihm. Auch seine Hände, die auf der Tischplatte lagen, gehörten nicht zu ihm. Sein Körper, seine ganze Person, seine Gedanken waren Einzelteile, die sich für bestimmte Tätigkeiten zusammenschlossen und dann wieder auseinanderstrebten.
    »Er hat gesagt, dass er sterben möchte wie sein Vater«, sagte die Stimme am Vorabend der Beerdigung, da alles schon endlos wiederholt worden

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