Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
über die Ratlosigkeit sprach. Zum »Auszug«, wie die Pfarrerstimme bei der Besprechung das Herausgehen aus der Kirche genannt hatte, spielte er »Love in Portofino« und wusste nicht, ob es geschmacklos war. Während sich seine Finger über die Tasten bewegten, betrachtete er das kleine Holzkreuz, das links über dem Spieltisch hing, mit einem Palmwedel geschmückt und umsummt von einer Biene, die sich hierherauf verirrt hatte. »Liebe Biene, hilf mir«, wollte er sagen, betrachtete die Notenhefte, die am Fußboden in einem Weidenkörbchen gestapelt waren, »liebe Notenhefte, helft mir.« Lange blieb er auf dem Hocker sitzen. Er atmete den Weihrauchgeruch, Holzgeruch, die Kühle des hohen Kirchenraums. Das Gebälk über ihm stand fest, die Notenhefte lagen, die Biene summte, und für einen Moment war er sicher, dass alles dies nicht wirklich geschah.
Als er aus dem Schatten des Vordachs ins Licht des kleinen Friedhofs trat, sah er von fern die Trauergemeinde, die sich durch enge Pfade quetschte und zwischen den Grabsteinen ausbreitete. Erst nachdem sie den Sarg in die Erde gesenkt hatten, erreichte er die übrigen. Helge war da, Tini, Ulrich, Didi, jene, die sie Freunde nannten, und als sich die Menge im Frühlingswind zerstreut hatte, sah er am Friedhofstor Breitenbach, der knorrig und nach vorn geneigt stand und über das gelbe Rapsfeld hinauf zum steil ansteigenden Himmel blickte. Lange Zeit sagte er nichts. Dann sagte er: »Besuchen Sie mich einmal.« Tom nickte. Aber er wusste, dass er ihn nie wieder besuchen würde.
BIS DANN
Warum sie ihn in die Erde hinabgesenkt haben. Warum sie einen Pfarrer über ewiges Leben haben lügen lassen. Warum sie diese Pfarrerlügen mit ihm in die Erde hinabgesenkt haben. »Weil man es nicht wissen kann«, hatte Lisa gesagt, bevor sie schrie, endlich, und mit Fäusten auf seinen Brustkorb schlug, und er sich nicht wehrte und ihre Frage, die einzige, nicht beantworten konnte: Warum sie nicht auf ihn aufgepasst haben.
Tom fährt Betty im röhrenden Opel zum Bahnhof. Sie möchte nicht, dass er sie ans Gleis begleitet. Im Rückspiegel sieht er, wie sie um das Auto herum läuft, wie die Heckklappe hochschlägt, wieder hinabsaust und die Sicht freilegt, auf den Rucksack, den sie über die Schulter wirft und der so schwer ist, dass ihr Oberkörper ins Taumeln gerät. »Bis dann«, liest er von ihren Lippen, und ihr Blick hebt sich für einen Sekundensplitter zu ihm, bevor er wieder durch ihn hindurchfällt in den leeren Raum. Die am Rucksack festgebundenen Turnschuhe baumeln seitlich, schlagen aneinander, bis ihre Inhaberin hinter der Schwingtür des Bahnhofs verschwunden ist.
Eine Woge von Selbstmitleid überrollt ihn, fast erstickt er darin. Er schämt sich. Für seine unzulängliche Trauer, die sich wie ein Bumerang auf die eigene Verlassenheit zurückbiegt. Er trauert um sich selbst. Weil er mit Marc auch sich selbst verloren hat, denn was ist ein Freund, wenn ihm der Freund fehlt? Was ein Liebender, der nicht mehr lieben kann?
Weil er das Auto zurückgeben muss, fährt er nach Aschberg / Rhön. Er kommt nur zwei Tage später als angekündigt, und er kommt allein, was die Eltern nicht besonders zu verwundern scheint. Ein rötlicher Abendwind geht durch die Vorgärten, undder Vater, der mit gespreizter Heckenschere am Zaun steht, hat bereits von weitem gehört, dass mit dem Auto etwas nicht in Ordnung ist. Der Auspuff, sagt er. Schon wie er unten beim Hessischen Hof um die Ecke gebogen sei, da habe er hören können, sagt der Vater, wie der Auspuff röhrt. »Ja«, sagt Tom, »der Auspuff«, und nickt und sieht hinter dem Küchenfenster den lockigen Kopfumriss seiner Mutter. Und sieht, wie sie kurz danach auf dem Treppenabsatz steht, wo der Abendwind durch ihre Haarlocken wischt, sie leicht bewegt wie die Blätter eines Baums. Dass er sich einmal ins Auto setzen, meint der Vater, und es anlassen soll. Er wird noch einmal genau hinhören.
Ob etwas passiert sei, fragt die Mutter, als sie die Treppen herunterläuft, fast herunterrennt. Sie trägt ein lilafarbenes T-Shirt, und Tom erschrickt über ihre faltigen Arme, die bei jedem Schritt wackeln, er denkt, dass sie alt wird, ja bereits alt ist , und er weiß nicht, seit wann.
»Ja«, sagt er. »Der Opel«, sagt er. »Er ist kaputt.«
Lange stehen sie schweigend um den kaputten Opel herum. Ob er bleiben will, fragt ihn die Mutter am Ende des Schweigens, ob er übernachtet. Aber Tom weiß es nicht. Er weiß es auch dann nicht, als
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